Jetzt ist es zu spät


Seit der Erfindung des Nationalismus, beschäftigen sich Menschen damit, wie sehr sie sich von anderen unterscheiden. Wenn sie herausfinden, dass eine größere Gruppe von ihnen dasselbe Essen mag und sie sich über die Zubereitung in der gleichen Sprache unterhalten können, erklären sie sich zur Nation und wollen einen eigenen Staat.
Vor vielen Jahren kam die Vorstellung auf, dass Böhmen, Mährer und Slowaken eine Nation bilden, und deshalb auch einen Staat haben sollten: die Tschechoslowakei. Zwar konzentrieren wir uns üblicherweise auf die Unterschiede zwischen Tschechen und Slowaken, nichtsdestotrotz war einst schon die Vorstellung avantgardistisch, dass Böhmen und Mährer etwas gemeinsam haben. Von Schlesiern ganz zu schweigen.
Dennoch entstand die Tschechoslowakei, weil Masaryk, und viele weitere mit ihm, sehr fähige Politiker waren. Solche fehlen heute in beiden Ländern, aber wir wollen nicht vorgreifen. Masaryks Rolle vor dem Entstehen des Staates lässt sich mit heutigen Worten wohl beschreiben als brand manager oder Marketingleiter. Er hat andere bereits existierende Länder davon überzeugt, dass auch eine Tschechoslowakei existiert, es aber bloß noch niemand weiß.
Die Tschechoslowakei führte schon mit ihrem Namen in die Irre
Die Tschechoslowakei entstand auf den Ruinen Österreich-Ungarns. Dabei verwirrte sie schon mit ihrem Namen. Denn der überdeckte die Tatsache, dass auf dem Gebiet des neuen Staates auch drei Millionen Deutsche lebten – und zwar bereits seit Jahrhunderten. Mit der Abspaltung von Österreich endete der Prozess der Teilungen allerdings nicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Deutschen vertrieben, aber der einst von ihnen bewohnte Raum blieb uns. Bis heute ist es nicht gelungen, die Sudeten wieder in Ordnung zu bringen. Wirtschaftlich und politisch erinnern sie uns immerwährend daran, dass dort mal irgendetwas irgendwie anders war.
Nach der Samtenen Revolution begann man schon bald intensiv zu diskutieren, dass Tschechen und Slowaken nun auch wieder nicht so viel gemeinsam hätten. Die ähnlichen Sprachen schienen plötzlich gar nicht mehr so ähnlich zu sein. Es konnte fast der Eindruck entstehen, dass sie einander völlig unverständlich wären. Außerdem zeigte sich, dass wenn die Tschechen gerne Schnitzel essen und die Slowaken Halušky, es nichts mehr gibt, worüber sie sich unterhalten könnten und ein gemeinsamer Staat so keinen Sinn mehr habe.
Gemeinsam ist beiden Länder die Sehnsucht ihrer Bewohner nach Uniformität – dass niemand groß aus der Reihe tanzt und jeder die gleiche Meinung hat. Die Unfähigkeit Andersartigkeit zu akzeptieren äußert sich in der Unfähigkeit Dialoge zu führen und zu begreifen, dass jemand eine abweichende Meinung haben kann. Sie äußert sich auch als Desinteresse, überhaupt einen Dialog zu versuchen. Der Stärkere setzt sich durch und nimmt auf die anderen keine besondere Rücksicht.

Sie einigten sich, dass sie sich auf nichts einigen können
Als in der Nachwendezeit die ersten Probleme und Konflikte auftraten, wurde statt einer Lösung ein Weg zur Teilung gesucht. Die damalige Politik wurde von zwei Alphatieren dominiert: auf der tschechischen Seite Václav Klaus, auf der slowakischen Vladimír Mečiar. Beide haben sich schnell geeinigt, dass sie sich auf nichts einigen können und es also auch nicht versuchen werden. Sie steckten den Hof ab, damit jeder auf seiner Seite der Anführer sein kann und ihm niemand hineinredet.
Den Leuten war das ziemlich egal, so wie übrigens alles, und so stand der Teilung nichts mehr im Weg. Als Erfolg gilt bis heute, dass niemandem etwas passiert ist. Es kam nicht zu einem bewaffneten Konflikt, zu keinem Bürgerkrieg. Sicher ist das wahr. Ganz bestimmt ist das besser, als wenn es anders gekommen wäre. Der Grund dafür liegt aber vielleicht nicht in der Genialität der beiden Völker, sondern eher in ihrer Lethargie und ihrem Desinteresse für öffentliche Angelegenheiten. Der Führer entscheidet halt und die anderem reden ihm da nicht hinein.
Aus einem Land entstanden zwei kleine und ähnlich bedeutungslose. Mit der Teilung verfolgten sie die Sicherung der jeweiligen inneren Einheit. Mal wieder. Sie hofften, dass jeder für sich selbst besser sorgen und die Interessen seiner Bürger verteidigen kann, denn: Alle Tschechen wollen doch dasselbe und alle Slowaken ja auch. Es zeigte sich, dass das Unsinn war. Heute sind deshalb beide Länder in einer ähnlichen Situation. Ihre Bürger verstehen sich untereinander nicht und können sich auf nichts einigen. Denn sie haben nie versucht, es zu lernen.
Es gibt nichts mehr, das man teilen könnte
Es stehen gegeneinander die Stadt- und die Landbevölkerung. Die Hauptstadt gegen den Rest des Landes. Prosperierende Regionen enteilen der Peripherie. Die Jungen verstehen die Alten nicht und umgekehrt ist es noch schlimmer. Alle wollen irgendwo anders hin, aber sie stecken fest innerhalb der Grenzen ihrer Staaten. Die einzige bekannte Lösung ist eine weitere Teilung. Bloß gibt es nichts mehr, das man teilen könnte.
Und so haben wir zwei Länder, die innerhalb ihrer Grenzen geteilt sind. Die Bewohner beider Länder äußern trotzdem Sympathie für die des jeweils anderen. Es hat sich gezeigt, dass sich die Menschen immer noch verstehen, sich gegenseitig besuchen und auch im jeweils anderen Land leben können. Notwendigerweise müssen wir deshalb fragen, ob das alles überhaupt einen Sinn hatte. Ob uns das Leben in einem gemeinsamen Staat nicht doch dazu gezwungen hätte, miteinander zu diskutieren und den anderen zu verstehen. Es hätte beiden Ländern geholfen. Aber dafür ist es jetzt zu spät.
Von Mai bis Dezember 1918 gelang es Masaryk, die Alliierten von einer tschechoslowakischen Staatsbildung zu überzeugen. Am 18. Oktober 1918 proklamierte Masaryk in der so genannten Washingtoner Deklaration einen unabhängigen tschechoslowakischen Staat, indem er sich auf das Naturrecht, die Geschichte und die demokratischen Prinzipien der USA sowie Frankreichs berief. Am 28.Oktober 1918 akzeptierte die österreichisch-ungarische Regierung die Bedingungen von US-Präsident Woodrow Wilsons für die Beendigung des Krieges und bot den sofortigen Waffenstillstand an, so dass dieser Tag offiziell als Gründungstag der Tschechoslowakischen Republik gilt.
Quelle: wikipedia
Quelle: wikipedia
Quelle: wikipedia
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(* 1982) ist Schriftsteller und Publizist. Er studierte Soziologie, Internationale Beziehungen und Europastudien in Brno. Biler schreibt unter anderem für die Zeitschriften „Finmag“, „Respekt“ und die Tageszeitung „Hospodářské noviny“. Im Herbst 2017 erschien sein Roman „Nejlepší kandidát“ („Der beste Kandidat“), eine politische Satire über den fiktiven Präsidentschaftskandidaten Jan Novák.
Übersetzung: Patrick Hamouz