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Gent glänzt mit Torekes

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Freiwillige sind dabei, den Boden zu düngen. Foto: © Torekes De Site

In einem gering entwickelten Viertel des belgischen Städtchens Gent zeigt die lokale Münze Toreke, wie groß die transformative Kraft alternativer Währungssysteme sein kann.

Ilias Cosé kommt selbstsicheren Schrittes auf mich zu. Der 60-Jährige trägt ein verschmitztes Lächeln im Gesicht und einen schwarzen Schlabberpullover mit der Aufschrift „De Site“. Das ist der Name eines Platzes im äußerst heterogenen und sozioökonomisch rückständigen Genter Stadtviertel Rabot-Blaisantvest, auf dem ein alternatives Münzsystem eingeführt wurde. Die Anwohner – Frauen und Männer verschiedenster Herkunft und Religion – kommen hier zusammen, um sich ein paar Cent nebenbei zu verdienen und andere Menschen zu treffen.

Früher war De Site ein verlassenes Fabrikgelände, jetzt befinden sich hier Gemüsegärten, Gewächshäuser und Container. Es herrscht eine ausgelassene Stimmung. Kinder helfen in Schrebergärten, neue Gewächshäuser werden errichtet, und hin und wieder hört man jemanden lauthals lachen. Cosé arbeitet hier schon seit einigen Jahren als Freiwilliger, denn auch er genießt die sozialen Kontakte und kann das Zusatzeinkommen gut gebrauchen: „Da ich Schulden begleichen muss, bleiben mir pro Woche nur 20 Euro. Wenn ich vier Stunden auf De Site arbeite, verdiene ich 10 Euro. Für mich bedeutet dieses Extra den Unterschied zwischen Essen oder Nicht-Essen.“

Extra Kleingeld für Stadtviertel, Nachbarn und Umwelt

Im November 2010 erblickte die lokale Münze Toreke hier, in einem der ärmsten Viertel Flanderns, das Licht der Welt. Das Toreke (zu Deutsch Türmchen) verdankt seinen Namen den großen Wohnblöcken in der Gegend. Die Einführung des komplementären Währungssystems war ein Experiment des Netwerk Vlaanderen (Netzwerk Flandern) im Auftrag des Flämischen Ministers für Arbeit und soziale Wirtschaft. Netwerk Vlaanderen, das mittlerweile FairiFin heißt, möchte der Gesellschaft und den Banken Anregungen zu einem anderen Umgang mit Geld geben. Die Münzeinheit Toreke soll zu sozialem Wachstum beitragen, indem die Freiwilligenarbeit der Anwohner entlohnt wird.

Im Prinzip kann jeder aus dem Rabot-Viertel Torekes verdienen, aber in der Praxis nehmen vor allem Bewohner mit viel Zeit und wenig Geld diese Möglichkeit wahr. Zu den Aktivitäten gehören beispielsweise kleine Reparaturarbeiten auf De Site an speziell dafür organisierten Nachmittagen, die Umstellung auf „grünen“ Strom, die Instandhaltung von Petanque-Bahnen oder die Erledigung von Einkäufen für eine Nachbarin oder einen Nachbarn. Kurzum: Torekes belohnen den Einsatz für Viertel, Nachbarn und Umwelt.

Die Münze wird durch den Torekesschalter in Umlauf gebracht. Zehn Torekes entsprechen einem Euro. Pro Stunde, die man sich für das Stadtviertel einsetzt, kann man 25 Torekes verdienen, also bescheidene 2,50 Euro. Der Einsatz fällt dabei immer unter die Freiwilligengesetzgebung. Die verdienten Torekes werden am Schalter ausgezahlt und können auch für eine Busfahrt, Müllsäcke, Kinotickets usw. ausgegeben werden.

Das komplementäre Münzsystem ersetzt nicht den Euro. Die Münzen sind vielmehr eine Antwort auf spezielle soziale Nöte des Stadtviertels, die gleichzeitig der Stimulation von lokalem und nachhaltigem Konsum dient. Weil die lokale Münzeinheit nur vor Ort ausgegeben werden kann, kann ein Viertel damit etwa den kulturellen Sektor unterstützen. Oder aber es kann zur Entlastung der Bewohner beschlossen werden, dass jeder einen Teil seiner Steuern in der alternativen Währung bezahlen darf. So sorgt das Toreke für ein sozialeres Stadtviertel.


Die „Nicht-Aktivierbaren“ aktivieren

Durch das Toreke rückt die vertrauensvolle und gleichberechtigte Behandlung von Bürgerinnen und Bürgern in den Vordergrund: „Wir machen keinen Unterschied zwischen den Teilnehmern. Bei uns macht es nichts aus, wie gut oder schlecht man etwas macht, solange man es macht“, sagt Marika Laureyns. Die Anfang-20-Jährige hat einen Abschluss in Handelswissenschaften und leitet das Torekes-Projekt. Das alternative Münzsystem bietet auch mehr Raum für Selbstentfaltung und maßgeschneiderte Arbeit. So ist die türkische Gemeinschaft zum Beispiel für die Schrebergärten und Stadtacker zuständig, da die meisten ihrer Mitglieder aus ländlichen Regionen stammen.

Durch den Einsatz der Torekes kommen auch Dinge ans Licht, für welche die reguläre Wirtschaft blind ist. Laureyns zufolge stellt das alternative Münzsystem die Art und Weise in Frage, in der unsere Arbeit organisiert ist: „Ich finde es unglaublich, wie viele Menschen wir aktivieren können, die von der Regierung und anderen Organisationen in die Schublade ‚nicht aktivierbar für den Arbeitsmarkt‘ gesteckt wurden.“ Statistiken zufolge erreichte das Viertel in kürzester Zeit mit den Torekes mehr, als es mit demselben Budget in Euro geplant hatte. Wegen dieser Erfolgsgeschichte der Torekes überlegt man, nun auch im Genter Viertel Ledeberg die komplementäre Währung einzuführen.

Solidarität und Diversität

Die Bewohner von Rabot sind sehr gemischt. Menschen aller Altersklassen und unterschiedlichster Herkunft und Religion sind hier vertreten. Die Beziehung zwischen Mann und Frau variiert je nach Kultur. Außerdem gibt es viele Vorurteile. Das Toreke durchbricht diese Stereotypen, indem es die Menschen zusammenbringt. Cosé kommt aus Kruja in Albanien. Anfangs wohnte er nicht gerne in der Genter Gegend „mit den vielen Türken“. Aber seit sie gemeinsam auf dem Platz arbeiten, hat sich seine Einstellung vollkommen verändert: „Die Türken sind tolle Menschen, die hart arbeiten.“ Die Solidarität wächst allerdings nicht nur unter den verschiedenen Kulturen, sondern auch unter Älteren und Jüngeren, Langzeitarbeitslosen und Angehörigen der Mittelklasse, Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung und Freiwilligen mit niedriger Rente.

Auffällig ist in diesem System, dass sich die Menschen, die sich in der schwächsten Lage befinden, am meisten für einander einsetzen. So kaufte einer der ärmsten Freiwilligen mit seinen Torekes ein gebrauchtes Fahrrad für den Sohn eines anderen Freiwilligen, der es selbst nicht bezahlen konnte. Je weniger die Menschen haben, umso mehr scheinen sie plötzlich zu geben. Wie dem auch sei. Das Toreke macht Veränderungen möglich, ohne dass gleich das gesamte wirtschaftliche System umgestürzt werden muss. Und vor allem: Jeder, der von den Torekes Gebrauch macht, wird bereichert.

Liza Noteris
ist Politikwissenschaftlerin und selbständige Journalistin in Belgien.

April 2015
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