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Senioren schreiben Wikipedia

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„Wir bereichern uns gegenseitig“, beschreibt Vlasta ihre Symbiose mit Wikipedia. Foto: © privat

Die Alten wissen am meisten, hieß es immer. Aber gilt das noch, wenn Wikipedia beinahe jede gewünschte Information liefert? Zumindest in Tschechien gilt jedenfalls, dass Senioren gerne Wikipedia mitgestalten.

Wikipedia ist eine Sammelstelle für Wissen. Und bekanntlich sind kulturübergreifend traditionell meist die älteren Mitglieder der Gesellschaft für die Verwaltung von Wissen verantwortlich. Folglich ist es nur logisch, dass auch sie den Inhalt der „Wiki“, der freien Enzyklopädie, mitgestalten. Das Projekt Senioři píší Wikipedii (Senioren schreiben Wikipedia) möchte das unterstützen. In Schulungen lernen Senioren, was sie zur Wikipedia beitragen können. Ähnliche Projekte gab es bereits im Ausland.

Den pessimistischen Stimmen aus den Nachbarländern zum Trotz, ist das Projekt im tschechischen Umfeld ein Erfolg: knapp ein Viertel der Teilnehmer beteiligt sich nach dem Kurs aktiv am Erstellen und Bearbeiten der Artikel. Das ist ein viel besseres Ergebnis, als die vier Prozent, die das Projekt Studenti píší Wikipedii (Studenten schreiben Wikipedia) verzeichnete. In Deutschland gab es in den Jahren 2008 bis 2013 ein ähnliches Projekt mit dem Namen Silberwissen, das sich jedoch nicht bewährte. Im Unterschied zu dem tschechischen Projekt, das von Freiwilligen organisiert wird, waren diese Kurse aus EU-Mitteln finanziert. Daher lag die Messlatte für den Erfolg, also eine möglichst hohe Anzahl von neu erstellten Artikeln, dort höher. Auch von den slawischen Nachbarn gab es mahnende Stimmen: „Die Polen sagten ganz frei heraus: ‚Das ging in die Hose. Jungs, macht bloß nicht den gleichen Fehler wie wir‘“, erzählt Jan Groh, Projektkoordinator von Senioren schreiben Wikipedia.

Kursleiter in der Bredouille

Gesicht des tschechischen Ablegers ist der Philosoph und Hochschullehrer Jan Sokol. Der ärgerte sich – wie viele andere Pädagogen auch – über die Ungenauigkeit der Wikipedia, die sich in der Folge gelegentlich in den Arbeiten seiner Studenten widerspiegelte. Statt einfach nur über die Online-Enzyklopädie zu schimpfen, entschied sich Jan Sokol, ein Projekt zu unterstützen, das die Qualität der Wikipedia erhöhen sollte – durch das Anwerben von Senioren als Mitgestalter der Inhalte.

Erfahrene und leidenschaftliche Wikipedianer unterrichteten die Senioren ehrenamtlich in der Prager Stadtbibliothek, wie sie ihr Wissen in den digitalen Raum übertragen können, dorthin, wo wissbegierige Menschen nach Fakten suchen. Der technische Aspekt, Quellenangaben, Urheberrecht: Im zweiten Durchgang des Kurses für Fortgeschrittene bekamen die zukünftigen Autoren alles beigebracht, was sie für die korrekte Erstellung von Wikipedia-Beiträgen benötigen. Es begann mit einem Vortrag. Anschließend ging es darum, das erworbene Wissen praktisch auszuprobieren. Währenddessen liefen die Kursleiter in dem Raum umher, um den Teilnehmern bei Bedarf zu helfen.

Mit ihren vorwitzigen und tückischen technischen Fragen brachten neugierige Teilnehmer sogar den einen oder anderen Kursleiter ganz schön in die Bredouille. Die wussten sich dann manchmal nur noch mit dem „Telefonjoker“ zu helfen. In der darauffolgenden Woche kamen die Kursleiter dann bereits mit Verstärkung. „Die Wikipedianer (also auch die Kursleiter) sind eigentlich nichts anderes als IT-Experten. Den Teilnehmern bringen wir jedoch bei, in einer visuell basierten Nutzeroberfläche zu arbeiten“, erklärt Groh die ulkige und unerwartete Situation. Das Publikum scheint die neuen Erkenntnisse zu schätzen. „Das ist genial!“ begeisterte sich etwa eine „Schülerin“ für die Umleitungsfunktion der Wikipedia.

„Die ganze Wikipedia hat keine Zeit“

Mithilfe des Projekts können Senioren ihr „Silberwissen“ weitergeben und dabei mit falschen Vorstellungen aufräumen. Jan Groh glaubte etwa, dass Rentner ganz viel Freizeit haben, mit der sie nichts anfangen können. „Die Senioren, die hierher kommen, sind ziemlich aktiv“, sagt Groh. Einige mussten den Kurs gerade aufgrund ihres Zeitmangels und anderer Aktivitäten abbrechen. „Die ganze Wikipedia hat keine Zeit“, so Groh.

Die Senioren schreiben nicht nur neue Artikel, sondern sie kümmern sich auch um Übersetzungen. Die sehr guten Fremdsprachenkenntnisse der Kursteilnehmer widerlegten ein weiteres Vorurteil, dass Jan Groh zuvor gehegt hatte. Kursteilnehmer Karel Jurák etwa hat mit technischer Unterstützung der Lektoren deutsche und englische Beschreibungen zum Eintrag Elektrofotografie „tschechisiert“.

Karel kann den tschechischen Wikipedia-Seiten unter anderem sein Wissen im Bereich Elektronik und Physik anbieten, denn er schreibt auch für das Fachmagazin DPS-AZ Artikel über Montagetechnologien im Elektronikbereich. „Mir ist aufgefallen, dass das Thema Technik auf den tschechischen Wikipedia-Seiten nur begrenzt behandelt wird. Mein Ziel ist es also, die tschechischen Einträge zu ergänzen, die im Vergleich zur englischen Version fehlen“, sagt Karel. Ursprünglich hatte er sich für den Kurs angemeldet, weil er lernen wollte, wie Texte und Bilder aus Wikipedia richtig außerhalb von Wikipedia zitiert werden. Denn das braucht er für seine Arbeit. Seine Erwartungen an den Kurs wurden erfüllt und er freut sich auch schon auf die nächste Runde. Außerdem hat er vor, seine Kollegen anzuleiten, um „deutsche Ausdrücke in der deutschen Wikipedia-Version des Eintrags zur Staatsoper Prag zu präzisieren und eventuell auch den darstellenden Teil zum Eintrag über das Deutsche Haus in Brno zu ergänzen.“

Die Kursteilnehmerin Vlasta pflegt eine andere Vorgehensweise auf Wikipedia. Während Karels Themen sehr speziell sind, ist Vlastas Interesse außerordentlich vielseitig. „Wissen Sie, was ein Netsuke ist?“ testet sie mich. „Noch nie gehört? Ich wusste das auch nicht, beziehungsweise dachte ich, es wäre so eine japanische Figur. Dabei ist es aber ein Knopf, der die Form einer Figur hat.“ Vlasta hat Talent, Geschichten zu erzählen, und dank ihr kann man nun auch in der Sprache der Biernation Tschechien, die Geschichte des flüssigen Brotes nachlesen. Als sie mir die Geschichte dieses Getränks erzählt, die sie für die Wikipedia erforscht und verarbeitet hat, kommt sie letztendlich zu dem Schluss: „Alkohol ist wirklich die Geißel der Menschheit, denn als der Mensch festgestellt hat, dass Alkohol auch angenehme Wirkungen hat, hörte er auf durch die Steppe zu wandern, wurde sesshaft, um das anzubauen, was er dafür brauchte. Aber sagen Sie mir jetzt nicht, dass sie nun lieber wieder durch die Steppe wandern würden.“

Senioren erweitern den Horizont der Wikipedia-User

Je nachdem, ob sie gerade am Erzählen oder Zuhören ist, gehen Vlastas leuchtende blaue Augen mit den langen Wimpern weit auf, um sich dann wieder konzentriert zu verengen. Sie sprüht vor Energie. Die kommt auch zum Vorschein, als sie erzählt, dass unter einem ihrer Artikel eine hitzige Diskussion geführt wurde. Es ging darin um Werke, an denen Zweifel über die Autorschaft Shakespeares bestehen. Vlasta erzählt, wie sich einer der Redakteure bei ihr bedankt hat, dass sie sich auf dieses Thema eingelassen hat. Er selbst hätte ebenfalls mit dem Gedanken gespielt, sich letztendlich jedoch nicht getraut.

Und wo findet Vlasta ihre so unterschiedlichen Themen? Immer wenn sie etwas fesselt, notiert sie sich das als ein potentielles Thema, und schaut anschließend nach, ob es bereits auf den tschechischen Wikipedia-Seiten vertreten ist. Vlasta geht bei der Bearbeitung der Beiträge sehr sorgfältig vor. Sie führt sehr genaue Recherchen durch, bei denen sie selbst viel lernt. „Wir bereichern uns gegenseitig“, beschreibt Vlasta ihre Symbiose mit Wikipedia.

Senioren schreiben Wikipedia und erweitern damit den Horizont der tschechischen User. Zwar folgt die Bearbeitung und Erstellung der Artikel strengen Standards, die verhindern sollen, dass die individuelle Handschrift der Autoren sichtbar wird. Doch allein die Themenauswahl durch Menschen, die im Internet üblicherweise unterrepräsentiert sind, hinterlässt ihre Spuren.

Daniela Ešnerová
Übersetzung: Bianca Lipanská

Copyright: jádu | Goethe-Institut Prag
März 2016

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