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Tanz auf zwei Rädern

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Choreographie „Jerome“ (rechts Martina Henrichová), Foto: © Gabriela Šmídová

„Die Läufer benutzen bitte die Beine, wir anderen die Hände“, ruft die Choreographin Martina Henrichová (29) energisch, während sich im Rhytmus dramatischer Musik acht Tanzpaare auf sie zu bewegen – immer je ein Tänzer im Rollstuhl und ein zweiter auf eigenen Beinen. Martina leitet einen Workshop, der Menschen mit und ohne Handicap auf ungewöhnliche Art verbindet und dazu beiträgt Berührungsängste zwischen ihnen abzubauen. Unter anderem erfahren die gesunden Teilnehmer, dass Behinderte keineswegs arme Menschen sind, die man bemitleiden muss. Diese lernen wiederum, dass das Leben im Rollstuhl ihnen auch neue Möglichkeiten, Erlebnisse und Inspiration bieten kann.

Die Tanzworkshops für Rollstuhlfahrer hat Martina Henrichová selbst ins Leben gerufen. Sie hatte bereits seit ihrer Kindheit getanzt, aber gerade das, was sie am liebsten hatte, wurde ihr vor einigen Jahren zum Verhängnis. 2013 zog sie sich im Training eine Rückenverletzung zu. Seitdem ist sie gelähmt. Statt ihre Leidenschaft aufzugeben, gründete sie unter dem Dach des Prager Rollstuhlsportklubs eine Tanzabteilung. In Plzeň (Pilsen) und Prag hält sie Seminare ab und tritt mit behinderten und gesunden Menschen auf öffentlichen Veranstaltungen auf.

„Ich denke mir Choreographien für beide Gruppen aus, wobei ich versuche, gesunde und behinderte Tänzer miteinander zu verbinden – es gibt also nicht nur Solo- und Gruppentanzeinlagen, sondern auch Partnertänze und leichte Akrobatik. Kurz gesagt: Ich nutze die neuen Möglichkeiten, die der Rollstuhl bietet.“ Ihr Repertoire erweitert sie ständig und baut Elemente verschiedenster Tanzstile ein – aus Modern, Jazz und Street dance. „Ich lasse mich von berühmten Tänzern und Tanzgruppen inspirieren – wie vermutlich jeder Choreograph. Ein Großteil entspringt aber auch meiner eigenen Phantasie, wobei ich aus den Erfahrungen der Zeit schöpfe, als ich noch nicht im Rollstuhl saß“, sagt Martina.

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Choreographie „Jerome“, Foto: © Gabriela Šmídová

Eine große Portion Vertrauen

„Vor allem darf ich nicht vergessen, den Rollstuhl direkt nach einer Drehung abzubremsen, sonst geht es mit uns rückwärts, sobald du dich auf mich stützt“, lacht der 40-jährige Pavel Foltýn. Er ist zum ersten Mal auf dem Workshop und deshalb zu Beginn noch etwas unsicher. Die gleichen Gefühle habe ich selbst aber auch, schließlich ist es immer etwas gewöhnungsbedürftig, jemanden zu berühren, den ich erst wenige Minuten kenne. Aber schon nach kurzer Zeit nimmt uns der Tanz so in seinen Bann, dass alle Schüchternheit verfliegt und wir beobachten können, wie unsere Bewegungen mit jeder Wiederholung besser werden. Eine Weile tanzen wir beide alleine, aber einen wesentlichen Teil der Choreographie bilden verschiedene Pirouetten und Paarfiguren, die von Pavel einiges an Geschicklichkeit im Umgang mit seinem Rollstuhl erfordern – und von mir ein gehöriges Maß an Vertrauen. Der Tanz mit einem Rollstuhlfahrer ist nämlich eine spezielle Art von Symbiose, die wirklich nur dann gelingt, wenn man weiß, dass man einander vertrauen kann.

Auch wenn Pavel im Tanzworkshop ein Neuling ist, bestimmt der Sport einen beträchtlichen Teil seines Lebens. Im vergangenen Jahr hat er sein Studium an der Prager Fakultät für Körpererziehung und Sport aufgenommen. Vor allem aber ist er einer der besten tschechischen Handbiker – also der Radrennfahrer, die auf Spezialrädern mit Handantrieb ihre Runden drehen. Im Rollstuhl sitzt er seit er sich im Alter von 23 Jahren bei einem Sprung ins Wasser verletzte. Durch das Schicksal ließ er sich nicht entmutigen und arbeitete so hart an sich und seinem Körper, dass er es bis zum Spitzensportler brachte. Trotz allem kann er beim Anblick von Martina Henrichová und weiteren erfahrenen Tänzerinnen nur staunen über deren Anmut und Beweglichkeit: „Für mich ist das Tanzen die Entdeckung einer völlig neuen Dimension der Bewegung. Und es ist ein wunderschönes Beispiel dafür, was alles mit einem Rollstuhl möglich ist. Ich weiß selbst, dass das insgesamt sehr viel ist, aber es ist doch häufig der Kopf, der einen limitiert.“

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Öffentlicher Workshop in Plzeň (in der MItte Martina Henrichová), Foto: © Martina Henrichová

Eine atemraubende Verbindung

Die meisten Menschen mit Behinderung mögen es nicht, wenn ihr Umfeld zu sehr auf sie Rücksicht nimmt. Dementsprechend fordert auch Martina die Teilnehmer ihrer Workshops. Zwar tanzt jeder, wie es der Gesundheitszustand erlaubt. Die Choreographie sieht aber auch kompliziertere Tanzfiguren vor. Auch das Tempo ist stets recht schwungvoll. Nach dem etwa zweistündigen Seminar für die Öffentlichkeit, folgt noch das Training eines Tanzensembles, das gerade für einen Auftritt übt. Die Tänzer führen eine berührende Choreographie auf, in der sich Leichtigkeit mit Genauigkeit und Harmonie verbinden. Die Tänzer scheinen plötzlich ein einziger großer Körper zu sein, gleichzeitig ergänzen sie sich gegenseitig. Und wir Beistehenden schütteln nur ungläubig den Kopf, wie elegant Bewegungen im Rollstuhl wirken können.

Eine der zentralen Personen der Choreographie ist Anna Krátká, die seit ihrem fünften Lebensjahr Ballett getanzt hatte. Mit 17 verletzte sie sich jedoch bei einem Verkehrsunfall die Wirbelsäule. Genauso wie Martina und Pavel musste sie kämpfen, um sich zumindest wieder ein bisschen bewegen zu können. „Etwa ein Jahr nach dem Unfall, begann mir der Tanz mehr und mehr zu fehlen. Die Ärzte haben mir deshalb empfohlen, mir im Kopf Choreographien auszudenken, aber das war einfach nicht dasselbe“, erinnert sich Anna. Zum Glück lernte sie bald darauf Martina kennen, die zu dieser Zeit gerade die Tanzabteilung gegründet hatte. Sofort schloss Anna sich an. Seitdem arbeiten die beiden Frauen zusammen. „Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie mich wieder zum Tanzen gebracht hat“, sagt Anna.

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Vorfúhrung „Dance and Change“ im Pilsener Klub Buena Vista (Martina Henrichová ist die zweite Tänzerin von links), Foto: © Eva Dang

Auch Tanz, aber ein bisschen anders

Auch wenn Anna findet, dass jeder, der dazu Lust verspürt, mit dem Rollstuhltanz beginnen könne, gibt sie dessen Besonderheiten zu bedenken: „Sämtliche Bewegungen unserer Hände müssen deutlicher und schärfer sein. Ebenso wichtig ist der Gesichtsausdruck, der die Beinbewegungen ersetzen und die Botschaft der Tanzfiguren unterstreichen muss.“ Und nicht zuletzt ist es natürlich notwendig, dass sowohl die Tänzer im Rollstuhl als auch die auf zwei Beinen geschickt mit dem Rollstuhl umgehen können, dass sie wissen, wann sie bremsen, sich drehen und wie sehr sie das Gerät beschleunigen müssen.

Rollstuhltanz ist bislang in Tschechien noch nicht besonders verbreitet. Männer bevorzugen häufig Gruppensportarten und haben zum Tanz ohnehin eher weniger Bezug. Und Frauen sind unter den Rollstuhlfahrern eine Minderheit. „Problematisch ist auch, dass die Konzentration von Rollstuhlfahrern in den einzelnen Städten nicht so groß ist und sie oft aus großer Entfernung zu den Workshops in Prag und Plzeň anreisen“, erklärt Martina. Gleichzeitig aber freut sie sich, dass die von ihr gegründete Tanzabteilung regen Zuspruch erfährt, neue Mitglieder hat, verschiedene Choreographien einstudiert und Angebote für Auftritte bekommt. „Deshalb will ich dieses Tempo zumindest beibehalten“, wünscht sie sich.

Alice Zoubková
Übersetzung: Patrick Hamouz

Copyright: jádu | Goethe-Institut Prag
Mai 2016
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