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Von der Straße ins Bewusstsein

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Obdachlose als Stadtführer zeigen ein unbekanntes Prag

Wenn Honza Badalec in der Tonne wühlt, interessiert das normalerweise niemanden. Das ist jetzt anders – einmal die Woche. Seit Mitte August arbeitet der Obdachlose als Stadtführer. Honzas Kunden erfahren Prag von unten: aus der Sicht eines Menschen, der auf der Straße lebt.

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Honza Badalec ist einer von acht Guides auf Prags wohl außergewöhnlichsten Stadtrundgängen: Pragulic. Foto: © Martin Nejezchleba

Die Fotoapparate klicken, als der kleingewachsene Krauskopf in einer ruhigen Nebenstraße beherzt in einen blauen Altpapier-Container greift. Er sucht nach Büchern. Seine Beute verkauft er an Antiquariate und verdient sich so ein bescheidenes Gehalt. „Manchmal sammle ich Flaschen, Klamotten, hin und wieder auch Essen“, sagt der Reiseführer und blickt kurz verschämt zu Boden.

Honza Badalec ist einer von acht Guides auf Prags wohl außergewöhnlichsten Stadtrundgängen: Pragulic. Das Konzept: Menschen, die auf der Straße gelandet sind, führen Neugierige durch ihre Stadt. Den einen soll das den Geldbeutel und das Selbstbewusstsein stärken, den anderen den Horizont erweitern.

Mit finanziellem Gewinn und trotzdem sozial

Die Idee dazu hatten drei junge Studenten der Karlsuni. Sie sind Kommilitonen am Lehrstuhl für zivilgesellschaftliche Studien und allesamt Mitte Zwanzig. Mit ihrem Projekt bewarben sich Tereza, Katarina und Ondřej um den Social Impact Award 2012. Und räumten glatt 1.500 Euro Startkapital ab. Der internationale Wettbewerb möchte junge Leute zum so genannten Social Business anregen. Das bedeutet, dass zwar gewinnbringend gewirtschaftet wird, gleichzeitig aber auch ein sozialer Mehrwert entsteht.

Für Pragulic könnte die Rechnung aufgehen. Die Nachricht von den Obdachlosen-Touren hat sich in Windeseile herumgesprochen, die Führungen sind gut besucht. Kostenpunkt pro Teilnehmer: 200 Kronen (rund acht Euro). Die Hälfte geht direkt an die Stadtführer.

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Die Idee zu Pragulic hatten Tereza, Katarina und Ondřej, Studenten der Prager Karlsuni. Foto: © Tomáš Česálek

Pragulic möchte das Leben auf der Straße ins Bewusstsein der Öffentlichkeit holen. Denn aus den Medien hören die Prager von ihren Obdachlosen meist nur im Winter – wenn wieder jemand erfriert. Oder, wenn Politiker planen – wie zuletzt vor den vergangenen Kommunalwahlen – sie in ein Zeltlager außerhalb der Sichtweite von Touristen abzuschieben. Wie viele Menschen in Prag ohne feste Bleibe sind, weiß man nicht genau. Offizielle Statistiken erfassen um die 4.000 Obdachlose. Manche Hilfsorganisationen hingegen sprechen von Zahlen jenseits der 10.000.

Mit Poesie durch die Straßen

Wer eine Tour mit Honza Badalec bucht erfährt, dass man auch von hoch oben auf der Karriereleiter tief fallen kann. Einst war er erfolgreich in der Werbebranche tätig. Gerne gibt er seine lustigen Werbeslogans zum Besten. Sein Lachen schlägt dabei in ein Grunzen um. Als vor zehn Jahren die Moldau das „Jahrhunderthochwasser“ nach Prag trug, ging Honzas bisheriges Leben den Bach hinunter. Den genauen Zusammenhang zwischen Naturkatastrophe und privater Tragödie lässt er offen. 2002 verlor der damals 45-Jährige Job und Heim. Seine Frau brannte mit seinem Buchhalter durch und nahm die Kinder mit. Dann begann der Abstieg.

„I love reading“. Das steht auf seinem knallroten T-Shirt. Seine Tour beginnt Honza, indem er jeden seiner sechs „Kunden“ nach literarischen Vorlieben fragt. Er strahlt, als Tour-Teilnehmerin Eva den Namen Václav Hrabě fallen lässt. Nicht ohne Pathos hält der Stadtführer auf dem Rundgang immer wieder inne – und rezitiert Verse des tschechischen Vertreters der Beat Generation. „Das da hinten ist der Tod der tschechischen Literatur!“ schreit er plötzlich auf und deutet auf einen in den Boden eingelassenen Altpapier-Container. „Da komme ich nicht rein.“

Am Busbahnhof Florenc schart Honza seine Gruppe um eine Plakette aus Plexiglas. Die erinnert an neun Obdachlose und zwei Hunde, die hier beim Brand ihrer vorübergehenden Bleibe ums Leben kamen. Mit flinken Fingern fischt der Stadtführer grinsend zwei Handvoll Kippenstummel aus dem Aschefang eines Mülleimers. Dann geht’s weiter zum Masaryk-Bahnhof. „Dort hinten harren die Obdachlosen aus, warten, ob ein Reisender nicht eine Tasche vergisst“, weiht Honza die Reisegruppe ein. Weitere Stationen: Eine ranzige Bahnhofskneipe, drei Antiquariate, Gassen und Altpapier-Tonnen des einstigen Arbeiterviertels Žižkov.

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Am Busbahnhof Florenc erinnert eine Plakette aus Plexiglas an neun Obdachlose und zwei Hunde, die hier beim Brand ihrer vorübergehenden Bleibe ums Leben kamen. Foto: © Martin Nejezchleba

Hoffnungsvolle Fälle

Ihre Touren stellen die Pragulic-Führer – nach mehreren Workshops – selbst zusammen. Wer beispielsweise mit Honzas Freundin Pavlína aufbricht, der erfährt auch Kunsthistorisches zu den Bauten in der Stadt. Der Tschecho-Peruaner José führt seine Gruppen durch die touristische Innenstadt, immer auf der Spur seines persönlichen Schicksals.

Sie gehören zu den hoffnungsvollen Fällen auf den Prager Straßen. Fast alle Stadtführer spielen in einem Obdachlosen-Theater. Die meisten haben zumindest eine vorübergehende Bleibe gefunden.

Bei einem Bier in einer verrauchten Kneipe –„Nach Dienstschluss!“ Das kann Honza nicht deutlich genug sagen – erschlafft das Dauergrinsen des Obdachlosen manchmal. Am schlimmsten sei die Scham. Ein Jahr sei er wegen nicht bezahlter Alimente im Knast gesessen. Jahre lang hätten ihn seine Kinder verleugnet. Erst seitdem seine Tochter wieder den Kontakt mit ihm aufgenommen hat, gehe es bergauf.

Von seinem Nebenjob als Stadtführer verspricht er sich, irgendwann nicht mehr auf die Gunst anderer angewiesen zu sein. „Die Obdachlosen lieben es, ihre Geschichten zu erzählen“, weiß Pragulic-Gründerin Tereza aus erster Hand. Das Gefühl, nach Jahren der Ausgrenzung etwas für die Gesellschaft tun zu können, ist für Honza und seine Kollegen von unschätzbarem Wert. Dass ihnen jemand zuhört, auch. Selbst wenn es nur einmal die Woche ist.

Martin Nejezchleba

Copyright: Goethe-Institut Prag
Oktober 2012
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