Job

Brotkrümel von Goethe

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Der Leidenschaft für ihren Job mangelt es der 23-jährigen Buchbinderin und -restauratorin Rebekka Hartmann nicht. Foto: © privat

„Mir gefällt der Gedanke, dass ich zwischen den Seiten vielleicht die Hinterlassenschaften eines Genies entdeckt habe“, sagt Rebekka Hartmann. In einem alten Buch hat sie Brotkrümel gefunden – in einer Bibliothek, die seinerzeit Johann Wolfgang von Goethe besucht haben soll. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Krümel von dem großen Schriftsteller stammen, schätzt zwar auch Rebekka nur minimal ein. Der Leidenschaft für ihren Job mangelt es der 23-jährigen Buchbinderin und -restauratorin trotzdem nicht.

Eigentlich wollte sie Archäologin werden: Ferne Länder bereisen, im Staub der Geschichte wühlen, vielleicht sogar ein neues Troja entdecken. Als Schülerin verbrachte Rebekka Hartmann deshalb viel Zeit auf Ausgrabungsstellen. Doch mit den Jahren kam die Erkenntnis: Das Troja-Abenteuer hat Heinrich Schliemann ihr weggeschnappt, der Arbeitsmarkt ist eher dürftig und überhaupt verbringen Menschen mit einem Bachelor in Archäologie heutzutage die meiste Zeit am Schreibtisch. Rebekka wollte aber unbedingt etwas Praktisches machen. Um ihren Interessen nicht komplett untreu zu werden, absolvierte sie deshalb eine Ausbildung zur Buchbinderin, Fachrichtung Einzel- und Sonderanfertigungen. Darauf folgt jetzt ein Studium der Konservierung und Restaurierung von Schriftgut, Buch und Grafik. Dabei setzt sie jahrhundertealte Schriftstücke liebevoll wieder instand.

Nicht alles, was machbar ist, sollte auch gemacht werden

Rebekkas Finger klicken eifrig die Maustaste, über den Bildschirm flimmert in schneller Abfolge die Fotodokumentation ihres letzten Projekts: „…und hier musste ich erst mal den Deckel abnehmen, um nachzusehen, wie groß der Schaden ist. Anschließend habe ich dann das richtige Material zum Nachbessern gesucht. Und hier“, an dieser Stelle kratzt sich die 23jährige etwas verlegen die kurzen, blonden Haare, „hier bin ich ein bisschen mit der Kamera ausgerastet, weil ich so begeistert von dem Ergebnis war.“

Zugegeben: Auf den allerersten Blick erscheinen die Bilder in etwa so spannend, wie die 13.486 immer gleichen Landschaftsaufnahmen, die ein Bekannter bei seinem letzten Urlaub in der Mongolei geschossen hat. Rebekkas Diashow zeigt lediglich ein Buch, geschätzte 300 Jahre alt und mit deutlichen Spuren eines Wasserschadens. Der Einband ist aufgeschwemmt, die Seiten gewellt, am Deckel kleben noch Reste von anderen Büchern. Die folgenden Fotos dokumentieren verschiedene Arbeitsschritte, mit denen das Werk nach und nach wieder instand gesetzt wird. Wie genau das funktioniert, hat Rebekka in ihrer Ausbildung gelernt. Und ganz am Ende der Fotostrecke erahnt möglicherweise auch der Laie den Grund für ihre Begeisterung: Von den Spuren des einstigen Wasserschadens ist absolut nichts mehr zu sehen. Das Buch wirkt so gut wie neu – jedenfalls so neu, wie ein 300 Jahre altes Stück Schriftgut eben wirken kann.

Historischer vs. wirtschaftlicher Wert

„Aber eigentlich“, fährt Rebekka fort, „kann ich alles wieder vergessen, was ich in meiner Ausbildung gelernt habe.“ Damit meint sie jedoch keineswegs die Techniken, die ihr in der kleinen Buchbindewerkstatt in Göttingen beigebracht wurden, ganz im Gegenteil: „Ich möchte meine Ausbildung auf keinen Fall missen und bin froh, dass ich gelernt habe, was alles möglich ist.“ Doch im Grunde gelten bei der Buchbinderei fast genau dieselben Maßstäbe wie in der Wissenschaft: Nicht alles, was machbar ist, sollte auch gemacht werden. „Von einem Buch, das Jahrhunderte alt ist, kann man nicht erwarten, dass es aussieht wie frisch aus der Druckerpresse“, erläutert Rebekka. „Und wenn es einen Wasserschaden erlitten hat, weil die Bibliothek überschwemmt wurde, dann ist das in gewisser Weise ja auch ein Stück Geschichte, die es erlebt hat.“

An Rebekkas altem Arbeitsplatz schlugen häufig Kunden auf, die wollten, dass ihre Bücher „wieder hübsch“ aussehen. Nicht gerade ihre Lieblingsklienten: „Es gibt einen historischen und einen wirtschaftlichen Wert“, erklärt Rebekka. „Der reine Verkaufswert eines Buchs richtet sich neben Dingen wie Auflage und Alter natürlich auch danach, wie gut das Buch erhalten ist. Insofern kann eine Restauration durchaus wertsteigernd wirken.“ Andererseits gilt: Durch eine Restauration mindert sich der historische Wert, in manchen Fällen sogar immens. Dies den Kunden begreiflich zu machen, sei oft sehr schwierig, sagt Rebekka, und zum Teil auch geschäftsschädigend: „Wenn ich ein Buch nicht wiederherstelle, weil ich es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren kann, dann macht es garantiert irgendjemand anders.“ Von einem reinen Gewissen zahlt sich aber die Miete nicht. Deshalb hofft laut Rebekka jeder Buchrestaurator insgeheim darauf, „finanziell so gut gestellt zu sein, um auch mal Aufträge ablehnen zu können“ und „mit der nötigen Eloquenz gesegnet, um Kunden davon zu überzeugen, dass manche Erneuerungen einfach unnötig sind.“

Digitalisierung?

„Alte Bücher restaurieren, ist das nicht langweilig? Und hat der Job überhaupt Zukunft? Heutzutage geht das doch alles digital!“ Diese Aussagen hat Rebekka schon gefühlte 100 Mal gehört und ist dementsprechend genervt davon. Sie findet ihre Arbeit „kein bisschen langweilig!“ Und: „Jedes Buch hat unterschiedlichste Zeiten und Epochen überdauert, jeder Knick, jede Anmerkung und jede Abnutzungsspur erzählt eine eigene Geschichte.“ Laienhafte Reparaturen zeigen, dass das Werk seinem Besitzer eine Menge bedeutet hat. „Wenn Bücher reden könnten, stellt euch mal vor, was die für Geschichten erzählen könnten.“ Kürzlich hat Rebekka uralte Brotkrümel in einem alten Buch gefunden, und zwar in einer Bibliothek, die auch der berühmte Johann Wolfgang von Goethe öfter besucht haben soll. Von wem die Krümel stammen, lässt sich natürlich nicht mehr feststellen. „Genausowenig kann man garantieren, dass hier nicht ein gewisser Herr Goethe seine Wurstsemmel gegessen hat“, so Rebekka. „Auch Genies kriegen schließlich mal Hunger, oder?“

Das Thema der Digitalisierung ist aus Buchbindersicht zweischneidig. Von elektronischen Lesegeräten hält Rebekka überhaupt nichts: „Ich muss ein Buch in der Hand halten, es anfassen und die Seiten umblättern können.“ Trotzdem setzten sich die Buchbinder- und Restauratoren auch dafür ein, dass Inhalte von alten Büchern digitalisiert und auf diese Weise zugänglich gemacht werden. Denn: „Der größte Gefallen, den man einem alten Buch tun kann ist, es in eine hübsche Vitrine zu stellen und gar nicht mehr anzufassen“, so Rebekka. So sei es am besten vor weiterem Verfall geschützt. Und die Digitalisierung rettet zumindest den Inhalt im schlimmsten denkbaren Fall: „Manche Schäden nach Bränden oder Überschwemmungen kann auch der beste Restaurator nicht mehr beheben.“

Rebekka möchte sich später am liebsten auf die Restaurierung von Notenmanuskripten spezialisieren. „Ganz heimlich hoffe ich, irgendetwas völlig Unbekanntes zu entdecken, vielleicht ein unveröffentlichtes Fragment von einer nie vollendeten Sonate. Das wäre ein absoluter Traum.“

In einer Fotostrecke hat Rebekka für uns ihre Arbeit als Buchbinderin dokumentiert. Es handelt sich dabei allerdings nicht um ein altes Buch, sondern um ein neues, das sie für sich selbst neu eingebunden hat. Fotos von richtig alten Büchern und die jeweiligen Arbeitsschritte gehören zu Rebekkas Uni-Unterlagen, die sie nicht herausgeben darf.


Rebekkas Gesamtfazit: „Das Ganze ist ein absolutes Unikat. Selbst wenn ich das gleiche Projekt noch einmal machen würde, dann gäbe es minimale Veränderungen, zwei handgebundene Bücher sind niemals gleich. Laut meinem Ausbilder hat das Buch jetzt einen Gesamtwert von 650 Euro, Material und Arbeitsstunden mitgerechnet. Ich habe also einen echten Schatz im Regal. Aber selbst wenn ich jemanden finden würde, der mir so viel dafür bezahlt, würde ich es auf keinen Fall verkaufen.“


Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
Oktober 2014

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