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Von der Freiwilligen zur Aktivistin

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Humanitäre Materialsammlung der Organisation „Wir helfen Menschen auf der Flucht“ in Brno (Brünn). In der Mitte Zuzana Lenhartová, Foto: © privat

Im Herbst letzten Jahres brach Zuzana Lenhartová Richtung Süden auf, um Flüchtlingen zu helfen. Die Haltung der tschechischen Regierung zur Flüchtlingskrise ärgerte sie so, dass sie selbst begann, Kleiderspenden zu sammeln und Mithelfer zu suchen. Aus der Freiwilligenarbeit wurde eine Festanstellung, und so ist sie heute neben ihrer Forschertätigkeit an der Masaryk-Universität in Brno (Brünn) auch Vorsitzende des Vereins Pomáháme lidem na útěku (Wir helfen Menschen auf der Flucht).

Zuzana, du hast Journalismus studiert – und Psychologie, Soziologie und Sozialanthropologie. Jetzt beschäftigst du dich hauptsächlich mit der Sonderpädagogik. Kannst du bei deinen zahlreichen Aktivitäten die Kenntnisse und Fähigkeiten anwenden, die du im Studium erworben hast?

Ja, das kann ich. Bei meiner Arbeit geht es vor allem um die Kommunikation mit Menschen, um die Kunst des Überzeugens und darum, einen Weg zu finden, wie man die Gesellschaft voranbringen kann. Mein Beitrag zur Hilfe für die Menschen auf der Flucht beinhaltet nicht nur die Koordination der Leute, das Sammeln von Geld- und Sachspenden und die Überwachung der Logistik. Mein Ziel ist es auch, die Einstellung der tschechischen Gesellschaft zu verändern.

Gibt es ein Anliegen, das all deinen Aktivitäten zu Grunde liegt?

Ungleichheit hat mich schon immer interessiert, ob hinsichtlich der Nationalität, Religion oder des Geschlechts. An der Soziologie gefällt mir, dass sie den Schwächeren eine Stimme gibt. Sie hilft dabei die Rechte derer durchzusetzen, die das alleine nicht schaffen. Vor Jahren war ich an der Gründung der Gruppierung Blokujeme (Wir blockieren) beteiligt, die Opfer von Übergriffen gegen Roma unterstützt. Wir wollten die Roma vor allem beruhigen, ihnen erklären, was passiert. Gleichzeitig standen wir mit der Polizei in Verbindung, um die Sicherheit zu garantieren. Für meine Diplomarbeit habe ich mich wiederum mit der Geburtshilfe beschäftigt. Dort wollte ich beschreiben, wie Hebammen und Eltern benachteiligt werden.

Da fällt mir ein, dass ich wahrscheinlich im Vorteil bin, weil ich in der Grundschule mit ein paar Roma-Kindern in die Klasse gegangen bin, und ein paar behinderte Kinder gab es dort auch. Für mich war es immer normal, Menschen nach ihrem Verhalten zu beurteilen und nicht danach, wie sie von außen wirken. Daher kommt wahrscheinlich mein Interesse an der Beziehung von Mehrheiten zu Minderheiten, das mich schließlich zum Studium der Soziologie motiviert hat.

Freiwillige, ehrenamtliche Hilfe ist bei in Tschechien nicht unbedingt üblich und sie genießt kein so gutes Ansehen wie im Westen. Oft wird den freiwilligen Helfern der Aktivismus-Stempel aufgedrückt, und dieser Begriff ist für manche eher negativ besetzt. Was bedeuten diese Begriffe für dich?

Tatsächlich wehren sich viele gegen den Ausdruck „Aktivist“. Ich selbst bezeichne mich als Aktivistin, obwohl das für mich noch vor fünf Jahren ein Schimpfwort war. Ich konnte damals nicht verstehen, warum jemand demonstrieren geht. In der „Škola občanské inciativy“ („Schule für Bürgerinitiative“) habe ich gelernt, dass ich als Bürger und Mensch ziemlich viele Möglichkeiten habe, Dinge zu verändern. Zum Beispiel, wenn der Aufmarsch vor meiner Haustür mich stört oder ich auf eine Verletzung von Menschenrechten aufmerksam machen will. Und ich war begeistert zu sehen, dass mein Handeln wirklich eine Wirkung zeigt. Mit der Zeit hat sich also meine Meinung zum Aktivismus verändert.

Im Gegensatz zur Freiwilligenarbeit, versucht der Aktivismus, etwas zu verändern. Es geht dabei nicht um eine einmalige Aktion, sondern um das Wirken über einen längeren Zeitraum mit einem klaren Ziel vor Augen. Außerdem ist es ein berauschendes Gefühl, wenn sich aufgrund einer Aktion, tatsächlich etwas verändert hat. Da ist es dann schwer, einfach stehenzubleiben und das Geschehen zu beobachten. Das sehe ich auch bei unseren Freiwilligen. Als zum Beispiel mein Kollege Dalimil das erste Mal ins Ausland gefahren ist, sagte er: „Die Aktivisten seid ja ihr, ich fahr einmal hin und dann bin ich fertig“. Jetzt arbeitet er schon ein halbes Jahr als Analytiker für den Verein Wir helfen Menschen auf der Flucht.

Sind also Menschen, die heute den Migranten helfen, Freiwillige oder Aktivisten?

Ich möchte sie nicht gerne als Aktivisten bezeichnen, wenn sie sich selbst nicht als solche fühlen. Jemand, der Obdachlosen oder Flüchtlingen Kleidung schenkt, sieht sich selbst bestimmt eher als Freiwilligen, obwohl ich das vielleicht anders sehe...Auf jeden Fall hat Wir helfen Menschen auf der Flucht auch Menschen zum Handeln bewegt, die nicht aus dem klassischen Aktivisten-Umfeld kommen. Zu diesem Umfeld zählen dann eher Menschen, die sowieso schon lange mit gemeinnützigen Organisationen zusammenarbeiten.


Du bist der eigentliche Motor bei der Hilfe für die Migranten. Allein in Brno steht im Grunde alles unter deiner Regie, oder es passiert zumindest nichts ohne dein Wissen. Wie kam es dazu?

Das war so ähnlich wie bei den Demonstrationen gegen die Roma: Lange Zeit fühlte ich keine Notwendigkeit etwas zu tun. Aber dann bekam ich auf einmal das Gefühl, dass es außer Kontrolle gerät und man die Dinge systematisch regeln müsste. Du erwartest, dass der Staat die Probleme löst, aber dann siehst du, dass die Behörden entweder untätig sind oder kontraproduktiv handeln. Es spielt keine Rolle, woher die Migranten kommen und warum sie sich auf den Weg gemacht haben, keiner sollte im Meer ertrinken oder in Lkw-Anhängern ersticken. Und Kommentare wie „Sollen die doch ertrinken, geschieht ihnen recht“ haben mich aus meiner Trägheit gerissen. Also sind mein Freund und ich nach Budapest gefahren, mit einer Tasche voller Sachen, die wir vor Ort verteilen wollten.

Danach haben mich die Leute auf einmal angesprochen, am Ende waren es Hunderte, und nicht nur Freunde, sondern auch Fremde. Alle fühlten wie ich, und nach zwei Tagen habe ich einen Spendenaufruf gestartet. Am Ende wurde daraus eine der größten Sachspendensammlungen der Republik. Und dann kam eine Aktion nach der anderen. Die Grundlage blieb dabei immer, Material und Informationen darüber zu sammeln, wo etwas zu tun ist. Dann schlossen sich mir Michal Berg, Petra Quirke und noch weitere an. Und Anfang des Jahres wurde offiziell der Verein Wir helfen Menschen auf der Flucht gegründet. Die Aufgaben bleiben aber immer die gleichen: das Beschaffen von Geld, Leuten, Material, Informationen und allem, was nötig ist.

Wie kommt ihr an eure Informationen und wie werden sie verarbeitet?

Am Anfang bin ich einigen ausländischen Facebook-Gruppen beigetreten und habe dann die Inhalte ins Tschechische übersetzt und sie auf unsere Seite gestellt. Heute sammeln ein paar Leute diese Informationen für uns und über die Facebook-Gruppen und Group-Chats erfahren wir Aktuelles direkt aus den Krisengebieten. Unser freiwilliges Informationsnetz reicht quer durch ganz Europa, jetzt sogar auch bis in die Türkei. Ich glaube, wir verfügen über genauere und zuverlässigere Informationen als die Regierung.

Was sind das für Menschen, die in die Grenzgebiete fahren und die Flüchtlingen in Tschechien helfen?

Das ist etwas, was mich immer wieder überrascht. Ein großer Teil davon sind Studenten oder Mütter im Mutterschutz, die vor allem spenden, aber viele von ihnen fahren auch nach Ungarn, Kroatien, Serbien und jetzt eben nach Griechenland. Das sind Angestellte, Unternehmer, Spitzenmanager, Rentner – es ist wirklich ein Querschnitt durch die gesamte Gesellschaft, sowohl hinsichtlich des Alters, als auch des politischen Standpunkts. Da gibt es Anarchokommunisten, Leute von ANO oder aus der ODS , also Mitglieder von Parteien, von denen man das nicht erwarten würde. Vielleicht haben sie aber das Bedürfnis, sich von der vorherrschenden Linie ihrer Parteien abzugrenzen. Bis auf die Anhänger von Okamura sind das im Grunde alle...

Durch die Maßnahmen der Politik verschiebt sich die Hilfe von den noch relativ nah gelegenen Staaten nach Griechenland. Was glaubst du, wie sich die Situation weiter entwickeln wird?

Ich befürchte, dass nach der Schließung der Balkanroute ein neuer Weg genutzt wird, zum Beispiel über Albanien. Da würden aber wiederum Schleuser unsere Arbeit erschweren. Die momentane Lage in Griechenland ist tragisch, denn das Land hat auch mit sich selbst schon genug zu tun. Und jetzt sind da auf einmal fünfzigtausend Flüchtlinge. Das ist eine große Belastung für das Land.

Wie sind Deine Eindrücke aus dem griechischen Lager Idomeni, wo du vor kurzem warst?

Ich war beeindruckt. Es ist unglaublich, wie viel professioneller die Hilfsarbeiten waren als zum Beispiel im ungarischen Röszke. Die Situation in Idomeni ist zwar auf lange Sicht nicht tragbar und es wird von Tag zu Tag schlimmer. Aber es gibt jetzt eine Struktur und ein Helferteam mit festen Aufgabenbereichen. Die Freiwilligen sind immer noch da, aber gleichzeitig gibt es eine große und einigermaßen funktionierende internationale Community. Ein weiteres großes Erlebnis ist das Solidaritätsgefühl. Die freiwilligen Helfer hatten zum Beispiel ihre Zentrale in einem Hotel. Manche hatten sich dort einquartiert, manche kamen dorthin zu Meetings, einer ist dort nur aufs Klo gegangen, hat sein Zelt im Garten aufgestellt. Die Freiwilligen haben das gesamte Arial inklusive eines ehemaligen Kasinos nebenan besetzt. Der Hotelbesitzer war sehr hilfsbereit, denn er war dankbar für die Hilfe von den Menschen aus aller Welt. Und die Solidarität funktioniert auch unter den großen Organisationen, die vor Ort tätig sind.

Die Flüchtlinge nehmen das ähnlich wahr. Einige haben Angst in die Lager des Militärs zu gehen und da von den Soldaten wie in ein Gefängnis eingesperrt zu werden. Das Lager der freiwilligen Helfer ist für sie ein Ort, an dem sie als Menschen respektiert werden. Dort haben sie wenigstens ein bisschen Freiheit und Hilfe in ihrer Nähe. Sie sind uns sehr dankbar. Oft unterstützen sie uns bei der Arbeit und helfen uns zum Beispiel bei der Verteilung oder mit dem Dolmetschen.

Auf der anderen Seite verschlimmert sich die Situation in Idomeni von Woche zu Woche. Es kommen immer mehr Drogendealer und Schleuser ins Lager, es kommt zu Gewalttaten. Das sind Probleme, die die Freiwilligen nicht lösen können. Deshalb hoffen wir, dass der griechische Staat mit Hilfe der Europäischen Union den Leuten, die dort feststecken, so schnell wie möglich eine Alternative bieten kann, damit sich das Lager in Idomeni endlich leert.

Denkst Du, dass eine solche Erfahrung den Tschechen die Augen für die Freiwilligenarbeit in weiteren Bereichen öffnen kann?

Das hoffe ich. In Idomeni sind große Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen tätig, aber alles andere leisten die Freiwilligen – Essen, Verteilung, materielle Hilfe. Und wenn die freiwilligen Helfer sehen, dass ihre Arbeit etwas Großes bewirkt, gibt es ihnen bestimmt das Vertrauen, nicht zu schweigen und sich auch für andere Dinge einzusetzen.

Das Interview führte Barbora Antonová.
Übersetzung: Hanna Sedláček

Copyright: jádu | Goethe-Institut Prag
Mai 2016
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