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Die längste Klassenfahrt der Welt

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Handwerkergesellen auf Wanderschaft

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Gesellen auf Wanderschaft, Foto: privat

Im bekannten deutschen Volkslied "Das Wandern ist des Müllers Lust" sind sie verewigt, die tippelden Gesellen. Heute sind es meist Schreiner, Zimmerleute und Dachdecker, die sich auf eine mehrjährige Wanderschaft begeben. Die jungen Männer und inzwischen auch Frauen fallen durch ihre meist schwarze wohldurchdachte Kluft ins Auge.

Der Schlag der Hose ist kein Hippie-Revival. Er verhindert, dass sich die Schuhe beim Arbeiten mit Sägespänen, Staub oder Dreck füllen. Die sechs Knöpfe der Jacke zeigen die Arbeitstage einer Woche an. Ein Arbeitstag wiederum dauert acht Stunden. Die Weste zieren also acht Knöpfe. Eine Art schmaler Schlips, die so genannte „Farbe der Ehrbarkeit“, signalisiert die Zugehörigkeit zu einem der verschiedenen Schächte. So werden die Gesellenvereinigungen genannt.

Globalisiert und medienscheu

Gesellen vieler Handwerksberufe gehen auf die mindestens drei Jahre und einen Tag lange Wanderschaft, um ihr fachliches Wissen, das sich nicht nur von Land zu Land sondern auch von Meister zu Meister erheblich unterscheiden kann, zu erweitern .Seit gut 800 Jahren gibt es die Tradition, die früher für viele Berufe Pflicht war, heute aber nur noch von einigen Wenigen absolviert wird. Ein Anachronismus? Vielleicht. Aber damals wie heute gibt es kaum einen besseren Weg neben der beruflichen Weiterbildung andere Menschen, Völker und Lebensgewohnheiten kennenzulernen.

Die Wandergesellen treibt es nicht selten von einem Ende Europas bis zum anderen. Auch vor anderen Kontinenten wie Afrika und Asien machen sie nicht Halt. Manche schreckt nicht einmal eine Überfahrt nach Australien oder Amerika. Da das Reisen und Arbeiten immer im direkten Kontakt mit Land und Leuten stattfindet, bietet sich die unschätzbare Gelegenheit Menschenkenntnis, Lebenserfahrungen und Selbstbewusstsein zu sammeln, was sich nicht nur als nützlich erweist, wenn der eigene Betrieb gegründet und geführt werden soll.

So viel man auf der Wanderschaft erleben kann, so ungern sprechen die Gesellen darüber. Man habe kein Interesse an einer übermäßigen Öffentlichkeit, heißt es meist – freundlich aber bestimmt. Maik Scharf hingegen war bereit Auskunft zu geben über die Erlebnisse seiner Wanderjahre. Die führten den heute etwa 30-Jährigen bis nach Namibia, wo er inzwischen verheiratet und heimisch geworden ist. Als Altgeselle kümmert er sich auch heute noch um die Angelegenheiten seiner „tippelnden“ Nachfolger. Maik selbst hat seine Reise als Mitglied der ältesten Gesellenvereinigung unternommen, den „Rechtschaffenen Fremden Zimmerleuten und Schieferdeckergesellen“.

Maik hatte eine Lehre als Tischler abgeschlossen. Bevor er sich 2003 auf Wanderschaft begab, musste er sich jedoch erst vor den Altmitgliedern als „würdig“ erweisen. Auf den regelmäßigen Treffen fremder und einheimischer Gesellen machte er sich zudem mit den strengen Sitten und Gebräuchen seines Schachtes vertraut. Handys sind verboten! Der Besitz wird mit Zerstörung desselben bestraft. Während der Wanderschaft ist eine Zone von 50 Kilometern um den Heimatort Tabu! Das gilt auch an Feiertagen wie Weihnachten. Die Reise erfolgt zu Fuß oder zeitgemäß per Anhalter. Zwar sind öffentliche Verkehrsmittel nicht verboten, aber doch zumindest verpönt. „Es ist gut zu lernen, sich an einige Regeln zu halten“, antwortet Maik auf die Frage, warum er sich gerade die älteste und konservativste Gesellschaft mit den strengsten und meisten Regeln ausgesucht habe. Das gebe in gewisser Weise Sicherheit, meint er.

Mit Schmalmachen kann man sich durchschlagen

Foto: privatDie Ausreise erfolgte wie es Brauch ist, mit einer zünftigen Feier und dem Blick nach vorn. „Tippeln ist kein Spaziergang, aber die längste Klassenfahrt der Welt“, sagt Maik. Zwei, drei Monate brauchte er erst einmal um festzustellen, wie der Hase läuft. Er tippelte (so heißt das Reisen zwischen den verschiedenen Arbeitsorten) durch Deutschland. Schließlich wurde es Zeit, die erste Arbeit anzunehmen und die Kurve zu kriegen.

Es folgten drei Monate in der Schweiz, dann übernahm Maik im Schwarzwald den anspruchsvollen Ausbau einer Kneipe. Für Kost und Logis war auf dieser Baustelle, im Überfluss gesorgt. Ein schöner Zustand, der unterwegs nicht immer so leicht aufrecht zu erhalten ist. „Mit Schmalmachen, kannst du dich ganz gut durchschlagen. Doch das funktioniert leider nicht immer" berichtet Maik im Gesellenjargon. „Beim Schmalmachen sprichst du zünftig bei Bäckern, Meistern oder Gasstätten vor. So kannst du um Nachtlager, Arbeit oder um einen Imbiss bitten. Dafür gibt es verschiedene Sprüche. Ordentlich vorgetragen hab ich eigentlich fast immer Erfolg damit gehabt. Sogar meine Schuhe wurden repariert, als sie mir beinahe von den Füssen fielen.“

Doch nicht überall sind die Wandergesellen willkommen, oder ihre Bräuche sind schlicht nicht bekannt. In einer kleinen Stadt schickte man Maik von Hotel zu Hotel weiter. Einen Schlafplatz bot man ihm nirgends an. Nach einer unbequemen Nacht unter freiem Himmel, wurde er von dem Fahrer eines Oberklasse Wagens mitgenommen. „Lange musste ich nie warten, wenn ich per Anhalter unterwegs war. Mit der Kluft wirst du schnell mitgenommen. Aber so ein dicker Schlitten, das war die Ausnahme. Ich war noch ganz schön sauer, hatte schlecht geschlafen, auf einer alten Tür, die ich gefunden hatte. Jedenfalls hab ich dann ziemlich geschimpft, auf die Hotels und die Leute und so.“ Die Reaktion seines Chauffeurs war unerwartet: „Plötzlich entschuldigt der Kerl sich bei mir! Dann erzählt er, dass er einige Hotels besitzt und dass er seinem Personal bei der nächsten Gelegenheit sagen würde, dass sie wandernden Gesellen gern eine Übernachtung und ein Essen geben könnten.“

Mit dem Schiff in die weite Welt

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Maik Scharf in Korea, Foto: privat

In Hamburg sitzen die Hauptsitze der Gesellenschächte. Die Metropole ist seit den Zeiten der Hanse geprägt durch den Hafen. Für Maik bot sich die einmalige Chance als Schiffszimmermann anzuheuern. Mit einem riesigen Stückgutfrachter ging es auf eine viermonatige Reise rund um die Welt. Eine gigantische, haushohe Schiffskurbelwelle wurde nach Korea gebracht werden. Für einen gewaltigen Autokran musste Maik passende Holzkonstruktionen in den Laderäumen bauen.

1000 Meilen südlich von Hawaii wurde die Reise durch einen Motorschaden unterbrochen. „Flaute mitten im Nirgendwo, Hitze ohne ein Lüftchen. Rundherum nur spiegelglatter Ozean. Immerhin haben es die Maschinisten nach zwei Tagen hin gebogen. Mit halber Geschwindigkeit konnten wir dann weiter fahren.“ Durch die Verspätung wurde jedoch der Termin für die Panamakanalpassage verpasst, was noch eine Woche in der Hitze vor Panama City bedeutete. Im texanischen Houston gab das Schiff dann endgültig den Geist auf. Der vom Reeder organisierte Rückflug klappte reibungslos.

Aus der Tropenhitze verschlug es Maik nach Tromsö in Norwegens hohem Norden. Auch, wenn der Winter vor der Tür stand und die Polarnacht die Stadt wochenlang nicht frei geben würde, sprach einiges dafür. „Ich hörte von langen Partynächten und natürlich von Mädchen. Selbstbewussten Mädchen, die sich nehmen, was sie wollen...!“ Tromsö ist die nördlichste Universitätsstadt der Welt, weit hinter dem Polarkreis. Tatsächlich erlebte Maik dort eine gute Zeit, mit gutem Verdienst und intensiven Kontakten nicht nur zur einheimischen Bevölkerung.

In Südnorwegen baute Maik dann alte Holzhäuser zu komfortablen Ferienhäusern um. Nach der Polarnacht in Tromsö kam er so auch in den Genuss der Mittsommernächte, in denen die Sonne nicht untergeht. Die Arbeit machte Spaß und es blieb noch genügend Zeit für das Fischen im Boot des Chefs, der ihn gern behalten hätte. Noch einen Winter in der Kälte kam jedoch nicht in Frage: „Alles was du hast und mitnehmen darfst, trägst du immer bei dir in dieser kleinen Rolle, dem ‚Charlottenburger‘. Das wichtigste Werkzeug, die Zahnbürste, ein zweite Kluft und natürlich was zum Waschen für dich und die Klamotten. Das muss für den Sommer und für den Winter reichen. Im Sommer wird es ganz schön warm, im Winter kalt. Da willste in den Süden.“

Neue Heimat

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Maik Scharf in Namibia, Foto: privat

Die Wahl fiel auf Namibia, nicht zuletzt weil es dort eine Gesellenherberge gab. Die Suche nach einer geeigneten Arbeit verlief schnell und erfolgreich. Bald darauf lernte er seine heutige Frau kennen. Er blieb, solange es ging.

Eine ganze Woche lang dauerte die Feier bei seiner Heimkehr. Neben einem Berg Essen verschwanden gut 500 Liter Bier. Schließlich hatte Maik Freunde und Familie über drei Jahre lang nicht gesehen. „Meine Eltern haben die Turnhalle der Gemeinde gemietet. Es waren viele Gesellen angereist. Bei so einer Gelegenheit werden alle Herbergen und Altgesellen angeschrieben und alle die dort vorbeikommen wissen halt Bescheid. So muss es sein, das machst du nur einmal. Da musst du dann durch!“

Schon bald darauf kehrte er mit seiner Frau wieder nach Namibia zurück. Dort arbeitet er bis heute in einer Firma, die Häuser mit hölzernem Mobiliar auf höchstem Niveau ausstattet. Handwerkskunst, die in Deutschland im Begriff ist unterzugehen.

Bernhard Walther
 
Copyright: Goethe-Institut Prag 
Dezember 2011
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Wanderjahre (Walz)

Die Tradition der Gesellenwanderjahre besteht seit dem 12. Jahrhundert. Sie hat fast nur noch in den Bauhandwerken überlebt. 2010 absolvierten in Deutschland nur noch etwa 450 Gesellen die Wanderjahre, weltweit etwa 10.000. Sie sind meist in Vereinigungen, den so genannten Schächten, organisiert. Die Wanderschaft dauert traditionell drei Jahre und einen Tag. Während dieser Zeit darf der Heimatort nicht betreten werden. Ausnahmen sind schwere Krankheit oder der Tod nächster Familienangehöriger. In der Regel wird ein Vierteljahr gereist (getippelt) und der gleiche Zeitraum gearbeitet. Das Tippeln erfolgt zu Fuß aber auch zeitgemäß per Anhalter. Längere Strecken mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu überwinden ist nicht verboten, aber verpönt. Übernachtet wird je nach der Möglichkeit bei Meistern, in Jugendherbergen oder unter freiem Himmel bei „Mutter Grün“. Die Schächte habe typische Riten und Bräuche wie etwa Sprüche, mit denen beim Meister um Arbeit, in Gastronomiebetrieben um Übernachtungen, eine Wegzehr oder einen Labetrunk ersucht wird.

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