Das finnische Comic-Wunder
Finnland war 2014 das Gastland der Internationalen Buchmesse in Frankfurt. Im Mittelpunkt stand dabei unter anderem die umfangreiche Comicproduktion des fünfeinhalb Millionen Einwohnerlandes. Die erfreut sich nämlich einer Unterstützung von höchsten Stellen. Finnland fördert die Entstehung von Comics mit einem eigenen Fonds.
Rashid hat es geschafft. Als einer von Tausenden afrikanischen Flüchtlingen, die das bessere Leben in Europa suchen, ist ihm die Flucht über das Mittelmeer gelungen. Der Marokkaner hofft, in Spanien Fuß zu fassen, sich eine sichere Existenz aufbauen zu können. Doch er muss begreifen: Eine ganze Infrastruktur im südspanischen Almería dient nur dazu, die prekäre Situation illegaler Einwanderer auszunutzen. „Mar del Plástico“, Meer aus Plastik, so heißt die Gegend um Almería umgangssprachlich auch. Weite Flächen der Region erscheinen von oben betrachtet wie von Plastik überdeckt. Es sind die Dächer der Gewächshäuser, in denen die Illegalen zu unfairen Bedingungen arbeiten, und die der Hütten, in denen sie hausen.
Rashid ist der fiktionale Held der Graphic Novel Unsichtbare Hände des finnischen Comicautors Ville Tietäväinen. Doch es gäbe Rashid auch in der Wirklichkeit, bekräftigt Tietäväinen, ebenso wie die Geschichte seines Comics – „in tausend Variationen“. Tietäväinen ist nach Frankfurt gekommen, um auf der Internationalen Buchmesse seine soeben auf Deutsch erschienene Graphic Novel vorzustellen. Finnland war 2014 das Gastland der Buchmesse. An sämtlichen Messetagen war die finnische Comicszene ein thematischer Schwerpunkt.
Warum, das ergibt sich schnell aus einem Gespräch mit dem Zeichner Tietäväinen. 2011 erschien in seinem Heimatland sein Comic über das Leben der in Südspanien gestrandeten nordafrikanischen Flüchtlinge. Zuvor verbrachte er fünf Jahre mit Recherchen – außer am Schreibtisch auch in Marokko und Spanien, wohin er sich im Jahr 2005 von dem finnischen Sozialanthropologen Marko Juntunen begleiten ließ. Wochenlang interviewten Tietäväinen und Juntunen junge Auswanderungswillige und ihre Familien in Marokko – und zwar mit staatlicher Förderung. Ein Fünf-Jahres-Stipendium aus dem finnischen Kunstfonds ermöglichte Tietäväinen die Umsetzung der Idee, die ihn innerlich schon seit Jahren verfolgte.
Viele hochwertige Comics aus einem kleinen Land
„Ich hätte die Idee auch ohne Stipendium umgesetzt – aber dann wäre der Comic auch jetzt noch nicht fertig“, sagt Tietäväinen.
Vor allem wäre er möglicherweise nicht so umfangreich: 215 Seiten im DIN-A-4-Format und auf Hochglanzpapier gedruckt. Viele Comickünstler können davon nur träumen. Dass die Entstehung von Comics in Finnland, wie in Schweden und Norwegen, staatlich subventioniert wird, liegt laut Ville Häninnen, der der Finnischen Comic-Gesellschaft vorsitzt, an der skandinavischen Auffassung vom Wohlfahrtsstaat. Im finnischen Staatshaushalt ist eine Förderung von Comics durch einen eigenen Fonds offiziell verankert.
„Für die finnische Comicszene wäre eine marktwirtschaftliche Kultur schlicht nicht durchführbar – es gibt einfach zu wenige Einwohner und somit zu wenige potentielle Kunden“, sagt Häninnen.
Dass der Staat seine Comickünstler unterstützt, wurde bei der Präsentation Finnlands auf der Frankfurter Buchmesse sichtbar. Im Pavillon des Gastlandes gab es eine ganze Reihe an aufwendig gestalteten Comics, in anderen Hallen fanden Podiumsdiskussionen zu der Frage statt, warum die Comicszene ausgerechnet in Finnland so produktiv ist. Unter Verlegern und Übersetzern erzählt man sich, Finnland bringe gemessen an der Einwohnerzahl weltweit die größte Anzahl an Comics hervor.
Die Produktionsquote ermöglicht der Staat, aber woher beziehen die Finnen ihre Ideen für die vielen Comicgeschichten? Eine Theorie argumentiert historisch: Weil die Winter in Finnland so hart seien, bleibe den Einwohnern des Landes nichts anderes übrig, als sich vor dem Kamin aufzuwärmen und Geschichten zu erzählen. Kalle Hakkola, der den jährlich erscheinenden Comic-Atlas Finnland herausgibt, der anlässlich der Buchmesse zum ersten Mal auch auf Deutsch erschienen ist, hält diese Erklärung für Humbug: „Diese These vom Eskapismus halte ich für völlig falsch, wenn es um die Frage nach der Ursache für die hochwertigen finnischen Comics geht. Es geht einfach um die Kunst.“
Für so manchen geht es überdies um das Thema. Ville Tietäväinen und Marko Juntunen beschäftigten die Probleme der Flüchtlinge, die sie in Marokko und Südspanien recherchierten. „Was wir in Almería gesehen haben, hat uns unglaublich schockiert“, sagt Tietäväinen. „Ich habe mir vorgenommen, nie wieder Obst und Gemüse aus Spanien zu kaufen.“
Noch bevor der Comic in den Druck ging, veröffentlichten Tietaväinen und Juntunen zwei große Reportagen im Helsingin Sanomat, um eine Debatte über den Umgang mit übers Mittelmeer geflüchteten Menschen anzustoßen. „Die Zeitung wird von 1,5 Millionen Finnen gelesen. Und die haben verstanden, dass das Obst in unseren Discountern nur so billig ist, weil Menschen auf unserem Kontinent dafür unter entwürdigenden Umständen schuften müssen.“