Kultur

Fotografie als visuelles Gedächtnis der Menschheit

Foto: Pavel DiasFoto: Pavel Dias
Mit dieser Fotografie eines ehemaligen KZ-Häftlings (im Rollstuhl) am Rande der Gedenkakte zum 50. Jahrestag der Befreiung des Lagers Auschwitz-Birkenau gewann Pavel Dias im Jahr 1995 den 1. Preis in der Kategorie Reportage im Wettbewerb Czech Press Photo. Foto: © Pavel Dias

Das Thema Judaismus zieht sich wie ein roter Faden durch die Arbeit und das Leben von Pavel Dias. An einigen Stellen ist der Faden jedoch etwas verknotet, als sei es ein Zeichen dafür, dass der Mensch an etwas denken sollte. Man kann die Knoten jedoch nicht aufschnüren. Es ist weder möglich, Aufgaben zu erfüllen noch etwas zu vergessen. Alles, was nicht dokumentiert ist, geht verloren aus unserem visuellen Gedächtnis, das eine Dominante der Moderne ist. Pavel Dias ist ein Fotograf, dem der Wert der Vergangenheit vollauf bewusst ist. In seiner Arbeit verbindet er sein großes Interesse an moralischen Werten, der eigenen Vergangenheit und jener der Menschen in seiner Umgebung. Seine grundlegende Lebenseinstellung ist scheinbar einfach: „ Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“

Es heißt, dass Bilder ein gutes Gedächtnis haben.

Das stimmt natürlich. Genauso wie Filmaufnahmen, das geschriebene Wort oder auch alles andere, was die Menschen hier hinterlassen. Der Mensch kann nicht alle Informationen und Erinnerungen dauerhaft konservieren. Die Fähigkeit etwas im Gedächtnis zu behalten, verändert sich mit dem Alter genauso wie seine Meinungen und so weiter. Die Dokumentarfotografie stellt uns einen Spiegel vor und sucht Antworten auf die Fragen, wie wir sind und warum wir so sind. Sie hilft uns dabei, die Ursachen für das menschliche Handeln aufzudecken. Die Dokumentarfotografie fördert das visuelle Gedächtnis der Menschheit. Sie ist ein Ausdruck der persönlichen Bereitschaft des Gestalters/des Autoren. Das wichtigste Thema ist dabei natürlich der Mensch und seine Handlungen. Die Reaktion des Menschen auf ethische Normen ist ein unbestreitbares und immerwährendes thematisches Interesse des Dokumentarfotografen. Die Fotografie ist eine Spur der Menschlichkeit und ihr Zeugnis, ihr visuelles Gedächtnis.

Das muss sich jedoch nicht nur auf die Fotografie beschränken, sondern das können auch Zeichnungen sein. Schauen Sie sich einfach mal Goyas Schrecken des Krieges aus dem Jahr 1810 an. Dank dieser Bilder können wir uns eine visuelle Vorstellung dieser Geschichte machen. Goya erging es genauso wie vielen anderen Künstlern auch. Sie sind Menschen, die starke Erlebnisse hinter sich haben und gleichzeitig erkennen sie, was wichtig ist, und vor allem halten sie diese Dinge im Bild fest. Auf gleicher Weise sind viele Zeichnungen aus den Ghettos, wie zum Beispiel aus Theresienstadt erhalten geblieben. Dort waren auch viele Maler und andere Künstler interniert, die verschiedenste Szenen aus ihren Erinnerungen schöpften. Sie hielten nicht nur die angespannte psychische Lage fest, sondern auch Spuren der Schönheit, etwa des Herbstes oder des Frühlings. Sie malten den Ort. Allerdings widmeten sich viele Zeichnungen dem Druck, der auch in anderen Lagern oder Gefängnissen zu verspüren ist.

Foto: Pavel Dias
Oranienburg, 1975. Eine Französin und eine Russin, die hier inhaftiert waren, sehen sich auf den Gedenkfeiern zur Befreiung des Lagers wieder. Foto: © Pavel Dias

Ihr Zyklus „Torzo“ wird heute als erstes Werk in ihrer Reihe zum Thema Judaismus wahrgenommen. Wie kamen Sie dazu, sich dem Fotografieren von Konzentrationslagern zu widmen?

Mein Großvater war, aufgrund seiner antifaschistischen Einstellung, während des Zweiten Weltkriegs in dem Studentenwohnheim Kounicové Koleje in Brno (Brünn) im Gefängnis. Später wurde er nach Breslau und schließlich nach Buchenwald gebracht. Nachdem der Krieg endlich zu Ende war, hat meine Großmutter mit mir und meinen Cousins jeden Tag in Brankovice auf die Rückkehr der Menschen aus den Lagern oder der Zwangsarbeit gewartet. Menschen mit gesunden Beinen waren sofort nach Hause gegangen, aber die Kranken oder Erschöpften blieben noch, bis sie wieder ausgeruht waren. Vielen ist das gar nicht so bewusst, aber viele sind auch noch nach dem Krieg, an Infektionskrankheiten oder Ähnlichem gestorben, sie starben erst nach der Befreiung an den Folgen. Also immer als es hieß, dass ein Transport ankommen sollte, sind wir zum Bahnhof gegangen. Obwohl manchmal niemand aus dem Zug ausgestiegen ist, und der Zug dort einfach nur kurz anhalten sollte, steckten die Dorfbewohner den Menschen Suppe, Tee oder Kuchen in den Zug. An solche Ereignisse erinnere ich mich auch heute noch sehr gerne. Mit der Zeit kamen immer weniger Züge an. Der Vater meiner Cousins kam gar nicht mehr zurück. Erst mit einem der letzten Züge kam dann auch endlich mein Großvater an. Als er nämlich zurück nach Böhmen kam, hatte er erst einmal bei einem Bekannten Rast gemacht, um wieder zu Kräften zu kommen. Er war knochendürr und verbrachte deshalb viel Zeit am Ofen, um sich aufzuwärmen. Dabei berichtete er den Leuten aus dem Dorf von seinen Erlebnissen. Immer wenn eine weitere Familie zu Besuch kam, fing er wieder von vorne an zu erzählen. Das führte dazu, dass ich die Geschichte und die Atmosphäre des Schreckens verinnerlicht habe.

In den sechziger Jahren bin ich dann zum ersten Mal nach Buchenwald gefahren und habe dort einige Fotos gemacht. Ich habe mich nicht aus Interesse auf das Thema gestürzt. Ich dachte nämlich, dass es keine Konzentrationslager mehr gibt. Sie waren sehr zerstört, aber man konnte immer noch einige Torsi auffinden, von Baracken, Krematorien, Toren, Spalten gleichsam als Lungen der Gebäude. Orte, an denen Menschen gelebt haben und gestorben sind. Für mich war das ein Torso, ein Torso dieser Hölle. Ich habe festgestellt, dass ich dort das Gefühl des Schreckens fotografisch fassen kann. Also begann ich verschiedene Konzentrationslager zu besuchen, die in Reichweite waren: Sachsenhausen, Oranienburg, Auschwitz, Majdanek und so weiter. Allerdings habe ich keine faschistischen Symbole fotografiert. Ich habe die Konzentrationslager als Instrument eines totalitären Regimes betrachtet. Ein ängstliches Regime, das seine Gegner vernichten möchte. Dabei habe ich mich nicht nur auf das Judentum konzentriert, obwohl natürlich vor allem Juden in den Vernichtungslagern ermordet wurden.

Trotzdem lag dann irgendwann ihr Schwerpunkt auf den Juden.

In den sechziger Jahren entstanden in der Tschechoslowakei Gruppierungen, die sich „weiße Juden“ nannten. Damit waren nicht Juden gemeint, sondern Menschen, die mit ihnen sympathisierten. Sie interessierten sich dafür, was sie erlebt haben, ihre Geschichte und was mit ihnen während des Zweiten Weltkrieges passiert ist. So sind auch viele Filme, Ausstellungen und Bücher entstanden. Für mich lagen die Gründe, sich mit dem Judentum zu beschäftigen, einerseits im Respekt für das Leiden der Juden, aber auch in den Erfahrungen, die ich mit Menschen und ihrem Glauben gemacht habe. Ich habe Arnošt Lustig kennen gelernt, der erst in den sechziger Jahren verstärkt angefangen hat, über seine Erlebnisse zu schreiben. Zuvor war er dazu noch nicht in der Lage gewesen. Ich habe mich außerdem mit Karol Sidon und Ivan Soeldner angefreundet, und kam so mehr mit dem Judentum in Berührung.


Antisemitismus ist auch ein Problem der Gegenwart.

In den Nachkriegsjahren sah die Gesellschaft ganz anders aus, sie war geeinter. Bereits seit siebzig Jahren gibt es keinen Krieg mehr in Europa und wir leben in Frieden. Allen Problemen zum Trotz führen wir ein gutes Leben und der Gesellschaft geht es gut. Eine stabile Gesellschaft hört aber auch auf, empfindlich zu sein und beginnt Hassreden zu tolerieren. Die Freiheit, Hass zu äußern ist jedoch kein Ausdruck von Demokratie, im Gegenteil führt sie letztendlich sogar zu Totalitarismus. Heute fordern die Menschen Rechte ohne Verpflichtungen. Nach dem Krieg war es undenkbar, dass sich fast nazistische Gruppen organisieren könnten und den Hitlergruß machen. Es schmerzt, den steigenden Antisemitismus zu sehen.

Sie haben Zeichnungen aus den Ghettos erwähnt. Gibt es aber auch authentische Fotos von Menschen, die in den Ghettos oder Konzentrationslagern lebten?

Ja, es gibt beispielsweise Fotos von Henryk Ross aus dem Ghetto in Lodz. Er hat dort sogar offiziell fotografiert – arbeitende Menschen, manchmal gab es dort Hochzeiten. Allerdings dienten diese Fotos den Deutschen als Propaganda, um zu zeigen, dass das Leben im Ghetto normal ist. Manchmal machte Ross jedoch auch Fotos für das Gedächtnis. In Lodz sollte es auch einen gewissen Mendelssohn gegeben haben, aber ich habe nicht viele seiner Fotos gesehen. Auch irgendein österreichischer Beamter war dort als Amateurfotograf tätig. Er war im Ghetto, also machte er Fotos vom Ghetto. Der polnische Regisseur Dariusz Jablonski bekam seine Fotos in die Hände und drehte 1998 den Spielfilm Fotoamator. Der Film besteht in erster Linie aus seinen Fotos. Auch im Warschauer Ghetto wurde fotografiert. Den Menschen war bewusst, dass es egal war, ob ein Profi-Fotograf oder einfach nur ein Amateur Hand anlegt. Wichtig war nur, dass das wahre Leben im Ghetto dokumentiert werden muss und dass man durchhalten und fortfahren muss. Ein Gedächtnis und Beweise schaffen, damit die Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten. So entstand eine große Materialsammlung von Bildern unbekannter Fotografen. Die entstand aber nicht offiziell, sondern illegal.

Ganz allgemein: Wie sollte eigentlich ein Dokumentarfotograf sein?

Ein Dokumentarfotograf muss auf jeden Fall sein Thema kennen. Er muss über den Sinn der Sache nachdenken, was passiert, was daraus folgt und so weiter. Er muss dazu eine bestimmte Haltung einnehmen, die sich dann auch in seiner Aufnahme widerspiegelt. All dies schlägt sich dann auch in der konkreten Stimmung, im Verhalten des Menschen nieder... In bestimmten Situationen muss man als Fotograf genauso schnell sein, wie als Reporter. Seine Fotografie muss eine bestimmte Stellung, eine Meinung wiedergeben. Einige fotografieren nur was sie interessiert, aber einem Fotografen muss bewusst sein, dass alles als Folge von etwas anderem entsteht.

Ab dem Jahr 1940 nutzten die deutschen Besatzer die Studentenwohnheime Kounicovy koleje als Gefängnisse, in denen während des Zweiten Weltkrieges zehntausende tschechische Patrioten, Widerstandskämpfer und Hochschullehrer inhaftiert waren. Die meisten von ihnen wurden anschließend in deutsche Konzentrationslager deportiert, einige wurden aber auch direkt in den Kounicovy koleje hingerichtet. Quelle: wikipedia
Das Interview führte Ester Dobiášová.
In ihrer Bachelorarbeit hat sie sich mit den Fotografien Pavel Dias` zur Thematik des Judaismus auseinandergesetzt.

Übersetzung: Bianka Lipanská

Copyright: Goethe-Institut Prag
Februar 2016

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