Kultur

Ein Plädoyer für die gegenseitige Abhängigkeit

Foto: © Antonín Matějovský | Institut dokumentárního filmuFoto: © Antonín Matějovský | Institut dokumentárního filmu
Eric Gandini stellte in Prag auf Einladung der East Doc Platform seinen Film „Die schwedische Theorie der Liebe“ im Rahmen des Filmfestivals Jeden svět vor. Foto: © Antonín Matějovský | Institut dokumentárního filmu

Fast die Hälfte der schwedischen Bevölkerung lebt in Singlehaushalten. Ein Luxus, der aber auch ein sehr einsames Leben bedeuten kann. Es kam vor, dass die Polizei Selbstmordfälle erst nach zwei Jahren entdeckte, weil der Tote einfach niemandem fehlte... Der in Schweden lebende Italiener Erik Gandini hat über die schwedische Politik der vollkommenen Unabhängigkeit des Einzelnen einen Film gedreht. Brauchen wir wirklich niemand anders?

Wann wurde Ihnen klar, dass es notwendig ist, einen Firm über die Kultur des Individualismus zu drehen?

In Schweden war es für mich schwer, ein Thema für einen Dokumentarfilm zu finden. Ich habe nach einem komplexen, nicht eindeutigen Thema gesucht, und mich schließlich entschieden, einen Film über die schwedische Gesellschaft zu machen: Da geht es nicht um ein Drama, eher handelt es sich um ein existenzialistisches Problem.

Als Italiener, der lange in Schweden lebt, fasziniert mich die Idee der Normalität, die sich jede Gesellschaft erschafft. Die Normen, von denen man glaubt, sie seien richtig und wahr, und nach denen wir uns deshalb verhalten. Aber wenn man in sich zwei Kulturen vereint, entsteht eine Art Relativität, die mich fasziniert. Ein und dieselbe Sache kann in der einen Kultur völlig normal sein, aber absolut untragbar in einer anderen Kultur. Manchmal gibt es noch nicht einmal eine plausible Erklärung, warum das so ist.

Was ist das Spezifische an der schwedischen Gesellschaft?

„Manche behaupten, Dokumentarfilme hätten neutral zu sein und objektiv, aber so etwas interessiert mich überhaupt nicht.“

Für Schweden ist vor allem die Idee der Autonomie charakteristisch. Es ist eine hypermoderne und sehr erfolgreiche Idee, die auf Selbstverwirklichung beruht, und auf der Vorstellung, dass jeder sein eigenes Projekt ist. Mich fesselte daran, dass Schweden diese Idee schon lange auch politisch fördert. In den 1970er Jahren wurde ein gigantisches Bauprojekt für eine Million Wohnungen begonnen. Es ist eine politische Zielsetzung, dass alte Menschen niemals abhängig von ihren Kindern sein sollen, und dass die Kinder so früh wie möglich selbstständig werden. Das alles hängt zusammen mit einer Angst vor Beziehungen, die für die skandinavischen Länder typisch ist. In gewisser Hinsicht waren diese Jahre visionär und gerade für Frauen sehr nützlich und befreiend. Es war ein Projekt, das die zukünftige Gesellschaft definierte.

Wie lebt es sich als Italiener in Schweden?

Wenn ich ehrlich bin, ist das, was ich in meinem Film kritisiere, gleichzeitig das, was mich dort hält. Ich lebe in Schweden seit ich zwanzig bin und ich liebe das Land. Und dank der Umstände, unter denen man in Schweden lebt, war ich unabhängig von meinen Eltern und konnte studieren. Junge Schweden sind sehr frei in ihren Entscheidungen, während für meine Freunde in Italien das genaue Gegenteil gilt. Manche sind in ihren Elternhäusern hängengeblieben und wohnen dort bis sie schon dreißig sind.

Mein Film ist sehr emotional und düster, ich habe in ihm auch meine eigene Angst verarbeitet, einsam und vergessen zu sterben. Auf der anderen Seite ist es in Schweden nicht so grauenhaft, wie ich es im Film zeige, sonst würde ich dort natürlich nicht leben. Der Film ist geleitet von einem Eindruck von der schwedischen Gesellschaft, von dem ich weiß, dass er im Kern wahr ist.

Einerseits geht es in Ihrem Film um Menschen, deren Selbstmord zwei Jahre lang unbemerkt blieb. Andererseits zeigen Sie Ihrem Publikum eine Gruppe alternativer Leute, die in einer Zeltstadt im Wald leben...

Ich mag es, wenn schon alleine die Charakteristik des Films eine Geschichte erzählt. Die Gegenüberstellung von extremen Typen verstärkt deren Aussagen. Jeder von ihnen kämpft nämlich irgendwie gegen die Isolation. Im Film treten keine normalen Menschen auf, denn ich wollte die Extreme zeigen, damit die Zuschauer selbst über mögliche Lösungen nachdenken können

Ich mache keine Filme, um dem Zuschauer das Übliche zu zeigen. Ich möchte, dass mein Zuschauer die Wirklichkeit auf einer außergewöhnlichen, poetischen, künstlerischen und persönlichen Ebene erfährt. Und Schweden bietet die Themen dafür. Manche behaupten, Dokumentarfilme hätten neutral zu sein und objektiv, aber so etwas interessiert mich überhaupt nicht.

In Ihrem Film arbeiten Sie viel mit den Begriffen Vereinsamung und Individualismus. Worin unterscheiden sich beide Dinge?

Die Grenze zwischen Vereinsamung und Individualismus ist kaum erkennbar. Individualismus gründet auf dem Versprechen von Glück, das aus dem Desinteresse für die Probleme der anderen entspringt: Denk an dich selbst! Wenn du dich auf dich selbst konzentrieren kannst und auf deine Karriere, wirst du ein besseres Leben haben. Es ist bequem, zwischenmenschlichen Kontakten auszuweichen, am Computer zu sitzen, Ruhe zu haben, sich über soziale Netzwerke zu sozialisieren und so weiter.

Die Frage, die der Film stellt, ist aber, ob ein solcher Lebensstil außer Bequemlichkeit auch Glück bringt. Zygmunt Bauman nennt das Langeweile. So kann man das sagen aus einer apolitischen und existenziellen Perspektive. Meine Frage aber lautet: Kannst du diese ganze Freiheit haben und gleichzeitig gegenseitige Abhängigkeiten zulassen? Gegenseitige Abhängigkeit bedeutet, dass ich kein Supermann bin, sondern andere Menschen brauche. Ich bin ein Mensch, der gegenseitige Abhängigkeiten braucht und sie auch sucht.

„Die Idee der Unabhängigkeit ist zu einer dauerhaften Einsamkeit geworden. Der Satz ‚Ich brauche dich‘ gleicht einem Eingeständnis von Schwäche.“

In Schweden gibt es so eine Redewendung: Einsam ist stark. Ich bin mir nicht sicher, ob es ein ähnliches Sprichwort auch in anderen Sprachen gibt. Es handelt sich um eine kulturelle Sache, und damit kehren wir wieder an den Beginn unseres Gesprächs zurück, dazu, was eigentlich „normal“ ist. In der gegenwärtigen Gesellschaft gilt es als normal, alleine und stark zu sein, denn es ist toll, wenn ich für mich selbst sorgen kann. Die Idee der Unabhängigkeit ist aber zu einer dauerhaften Einsamkeit geworden und zu dem Problem den Satz auszusprechen „Ich brauche dich“. Diese drei Worte gleichen einem Eingeständnis von Schwäche.

Glauben Sie, dass die Kultur des Individualismus in Schweden die Kreativität beeinflusst?

Ja, und in vielerlei Hinsicht in einem positiven Sinn. Es gibt dort die sehr starke Idee, keinen Gruppen zu folgen. Das ist paradox, denn die Menschen folgen der Normalität. Viele reisen zum Beispiel und haben es nicht nötig Teil irgendeines Clans oder einer Gruppe zu sein wie etwa die Italiener.

Die schwedische Vorstellung von Individualismus äußert sich zum Beispiel auch im Schulwesen positiv. Meine Kinder etwa sind es gewohnt zu lernen, weil sie selbst es wollen, und nicht, damit der Lehrer zufrieden ist und sie lobt. Den Kindern wird beigebracht, sich im Rahmen des durchgenommenen Stoffs ein Thema zu suchen, das sie interessiert, auch wenn es nicht gerade ihr Lieblingsfach ist.

Wie ist die Auffassung von Multikulturalismus in der schwedischen Gesellschaft?

Für die Schweden bedeutet Multikulturalismus ein Desinteresse, das vielen eine persönliche Freiheit garantiert hat: Leb du dein Leben, ich lebe meins. Du kannst homosexuell sein, Muslim oder was auch immer – Ich werde dich tolerieren, wenn du mich mein Leben leben lässt. Für mich ist ein solches Konzept unvereinbar mit der modernen kosmopolitischen Gesellschaft. Ein solches Verständnis von Multikulturalismus bedeutet nämlich nur, dass wir nebeneinander leben, aber ansonsten keine Verbindungen zueinander haben. Die einzige Lösung ist, dass wir gegenseitig aufeinander einwirken, uns anfreunden, uns verlieben, Kinder haben... Laut Bauman steckt hinter der Vermeidung, mit Fremden zu reden, eine Bequemlichkeit: Wir müssen uns mit der entsprechenden Person nicht auseinandersetzen, wir müssen keine Kompromisse machen, müssen nicht diskutieren und verhandeln. Und genau das wird nicht funktionieren in der zukünftigen Gesellschaft, beziehungsweise in der Gesellschaft, in der ich in Zukunft leben möchte.

In Zukunft? Wie wird die Gesellschaft in der Zukunft wohl aussehen?

Ich bin sehr optimistisch. In Schweden gibt es die Tradition der ambitionierten Ziele. Die Schweden haben zum Beispiel beschlossen, das förmliche „Sie“ aus dem Sprachgebrauch zu verbannen. Das mag an kommunistische Planvorgaben erinnern, aber es handelt sich in Schweden um eine Gesellschaft, in der sich die Menschen auf etwas verständigen können. Die Schweden sind in mancherlei Hinsicht sehr aufgeklärt, sehr früh haben sie körperliche Strafen für Kinder geächtet. Auf der Straße greifen sogar Menschen ein, wenn sie sehen, dass jemand ein Kind schlägt. Sie sind sehr tolerant gegenüber Homosexuellen. Wenn im Sommer die Gay Pride stattfindet, hat jeder Bus in Schweden eine Regenbogenfahne. Deshalb glaube ich, dass dieses Problem, wenn wir darüber zu sprechen beginnen, zu einem dieser ambitionierten Ziele wird und sich die Situation schließlich ändert. Das ist nichts, was eine komplette Restrukturierung erfordern würde, es geht lediglich um eine Korrektur der Werte. Mein Film soll dazu beitragen. Ich verstehe ihn als eine Deklaration der gegenseitigen Abhängigkeit.

Das Interview führte Marie Kučerová.
Übersetzung: Patrick Hamouz

Copyright: jádu | Goethe-Institut Prag
Mai 2016

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