Kultur

Araber in Prag!

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„Goethe-Institut“ auf Arabisch? Was hat das zu bedeuten?

Wer abends das Prager Moldauufer entlangschlendert, wundert sich vielleicht über den arabischen Schriftzug, der auf der Fassade des Goethe-Instituts leuchtet: Bis März 2017 liegt ein Teil der Kulturarbeit in den Händen eines jordanisch-tschechischen Kollektivs. Co-Kurator Lukáš Houdek hat uns das Projekt Carte Blanche Middle East genauer erklärt.

Was bedeutet eigentlich „Carte Blanche“? Und was hat dieser Ausdruck mit Kultur zu tun?

Carte Blanche ist Französisch und bedeutet weiße Karte, in Tschechien wird dafür vielleicht häufiger die Metapher des Blankoschecks benutzt. Damit bezeichnet das Goethe Institut Prag seinen Ansatz in diesem experimentellen Projekt: Es hat den Kollegen des jordanischen Goethe-Instituts und uns Kuratoren nicht nur freie Hand gegeben, welche Künstler, Aktivisten oder Experten wir für das Programm in Prag auswählen, sondern auch welchen Themen wir uns widmen. An der Auswahl waren außer mir beteiligt Vertreter des Goethe-Instituts Amman, die Schriftstellerin Petra Hůlová, der Anthropologe Pavel Borecký und zwei jordanische Kuratorinnen für zeitgenössische Kunst, Toleen Tawk und Noura al Khasawneh.

Was ist das Ziel dieser Zusammenarbeit?

Unser Blick auf den Nahen Osten ist von Stereotypen geprägt. Zugleich ist er für viele Tschechen eine unbekannte Region, vor der sie wegen Ereignissen der zurückliegenden Jahre eine natürliche Angst entwickelt haben. Über die vielfältigen Themen, die den Nahen Osten betreffen, und die Probleme, mit denen man dort kämpft, erfahren wir zumeist nur von außerhalb dieser Region. Am häufigsten sind derzeit verschiedenste anti-islamische Gruppierungen zu hören, die oft Falschmeldungen verbreiten und damit Angst erzeugen. Wir möchten deshalb, dass Menschen, die im Nahen Osten leben und gesellschaftlich aktiv sind, ihre Region selbst vorstellen. Darunter sind auch Menschen, die ihrer Gesellschaft durchaus kritisch gegenüberstehen und sich bemühen, Dinge zu verändern. Wir würden gerne einen Dialog herstellen und der tschechischen Gesellschaft die Gelegenheit bieten, Menschen aus dem arabischen Nahen Osten von Angesicht zu Angesicht zu begegnen.

Waren Sie selbst in Jordanien, um entsprechende Kontakte zu knüpfen?

Meine Reise nach Jordanien war großartig. Ich habe Dutzende Menschen mit den verschiedensten Interessen und Themen kennengelernt und dabei einen Einblick bekommen in die Komplexität mancher Probleme, die das Land hat. Während meines Besuches habe ich zahlreiche Kontakte für potentielle Kooperationen geknüpft – auch für die Kampagne HateFree Culture, für ich ebenfalls tätig bin. In Amman haben wir unsere erste HateFree Zone im Nahen Osten registriert und eine Zusammenarbeit begonnen mit dem Magazin My.Kali, der einzigen LGBT-Zeitschrift im arabischen Nahen Osten.


Wie nutzen Sie diese neuen Kontakte im Rahmen des Projekts Carte Blanche Middle East? Wen haben Sie nach Prag eingeladen?

Ich bin einer der Kuratoren eines Themenraumes, beteilige mich aber ebenso an der Auswahl der Personen, die am Programm teilnehmen. In Jordanien habe ich mich eingehend mit dem Leben der dortigen LGBT-Community beschäftigt. Daher betreue ich auch im Rahmen des Programmes zwei wichtige Debatten dazu. Am 13. Dezember werden einige Gäste aus Amman über das Leben von Schwulen, Lesben und Transpersonen in Jordanien erzählen, und wir werden eventuelle Parallelen zu der aktuellen oder historischen Situation bei uns suchen. Im Februar gibt es dann eine Debatte über Homosexualität und Religion. Es kommt ein geouteter Imam aus Paris, der dort eine Moschee betreut, die offen für Menschen mit einer abweichenden sexuellen Orientierung oder Identität ist. Dieses Thema werden wir aber auch aus der Perspektive von weiteren Religionen betrachten und erfahren, was genau in den Heiligen Schriften steht und wie sehr ein Mensch gläubig und zugleich schwul oder lesbisch sein kann. Für März bereiten wir eine kleinere Ausstellung in Plzeň (Pilsen) vor mit meinen Polaroid-Fotografien von jordanischen Schwulen und sehr persönlichen Videos des jordanischen Künstlers Ameer Masoud, in dem es um die verschiedenen Ebenen von Geschlechteridentität geht. Allgemein gilt aber, dass Carte Blanche Middle East ein demokratisches kollektives Projekt ist. Meistens brainstormen wir gemeinsam per Skype, kommentieren gegenseitig unsere Ideen und so entsteht das Programm dann mit vereinten Kräften.

„Die Welt wächst zusammen“, heißt es im Begleittext zum Projekt Carte Blanche Middle East. Hat sie das vorher nicht getan? Wie wächst sie denn heute anders zusammen als früher?

Dank des Internets, weiteren technischen Errungenschaften und der erschwinglichen Preise für Fernreisen sind wir uns auf der Welt so nah wie niemals zuvor. Wir können innerhalb weniger Sekunden Informationen oder Gefühle mit Menschen auf der gegenüberliegenden Seite der Erdkugel teilen. Gleichzeitig kommt es aber in letzter Zeit zu Spaltungen, zu Unverständnis und einer Abkehr von dem Gefühl der Zusammengehörigkeit und von dem Interesse für andere, die nicht in die Schublade „Wir“ passen. Mit dem Projekt Carte Blanche Middle East bemühen wir uns, diesem Trend ein wenig entgegenzutreten. Wir bieten der Öffentlichkeit die Gelegenheit, einige konkrete Personen kennenzulernen, die für viele von uns diese gefürchtete und gesichtslose Masse ausmachen. Nach dem Dialog mit diesen Menschen kann sich dann jeder seine eigene Meinung bilden.

Die Fragen stellte Tereza Semotamová.
Übersetzung: Patrick Hamouz

Copyright: jádu | Goethe-Institut Prag
Dezember 2016
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