Müdes Europa
Es ist der erste tschechische Roman über die so genannte Flüchtlingskrise: „Únava materiálu“ (etwa: Materialermüdung) von Marek Šindelka. Es braucht Mut in Zeiten gesellschaftlicher Spaltung und eskalierender Diskurse über dieses Thema zu schreiben. Aber hat der Autor auch etwas zu erzählen?
Der Roman Únava materiálu (Materialermüdung) erzählt von zwei syrischen Brüdern, die es wegen falscher Versprechungen ihrer Schlepper in unterschiedliche Teile Europas verschlägt – Wohin genau wissen wir nicht. Vielleicht sind sie nur ein paar Kilometer voneinander entfernt, vielleicht auch tausend. Ihr Alter ist unbekannt, aber wir erfahren, dass ihre Familie im Krieg in Syrien ums Leben kam. Die Brüder verloren ihre Angehörigen, ihr Haus, ihre Stadt, schließlich ihr ganzes Land. Sehen wir einmal von der Handlung, so müssten die beiden eigentlich nicht einmal Brüder sein. Jedes Kapitel kann die Geschichte einer beliebigen Person sein, die versucht, nach Europa zu gelangen.
Der Norden – Dorthin wollen sie. Es wird keine konkrete Stadt genannt, nicht einmal ein Land. Die beiden jungen Männer nehmen Europa als Ganzes wahr, als Land der Zäune, Hindernisse, unverständlicher Sprachen, Tafeln, Beschriftungen und Beton. Europa ist für sie ein Ort der Entfremdung. Während sie umherstreifen, zeigt sich, dass auch Europa sich von sich selbst entfremdete. Wäre ich kein Europäer, würde ich nicht in dem Europa leben wollen, das Marek Šindelka beschreibt. Es ist ein Ort aus Fabriken: eigentlich eine einzige große Fabrik, wo Menschen Maschinen dienen, ihre Zeit einer sinnlosen Arbeit opfern, in scheinbarem Luxus leben, erkauft durch große Mengen Stress und Leid.
Go Africa!
Amir gelangt im Gegensatz zu seinem Bruder unter der Motorhaube eines Lieferwagens versteckt in eine Stadt. Mit einer Abgasvergiftung bringt man ihn ins Krankenhaus. Von dort flieht er. Zweifellos diente dem Autor der tragische Tod von 71 Flüchtlingen in einem Lastwagen als Inspirationsquelle. Später trifft der Junge einen sechzehnjährigen Palästinenser, dessen Flucht nach Europa erst mit dem Verkauf der eigenen Niere beginnen konnte. Beiden geht es in der Stadt vermutlich schlechter, als wenn sie über Land ziehen würden. Mitglieder einer Hilfsorganisation kommen, fotografieren und filmen ihre Tätigkeit für die Medien und gehen dann gleich wieder. Wirkliche Hilfe kommt nicht. Das Leben in der Stadt geht weiter als existierten die mehreren hundert Kriegsflüchtlinge gar nicht. „Go Africa!“, bekommen der Syrer und der Palästinenser von jungen Männern gesagt. Eigentlich sind es noch Kinder. Weder Amir noch der namenlose Palästinenser entkommen ihrer Faust.
Der eine, er sah so aus, als wäre der der Anführer, sagte mit weit aufgerissenen Augen irgendetwas zu dem Großen. Der Große zog sich das Tuch vom Gesicht weg, trat mit dem Fuß gegen Amir und fragte: „English?“ Schnell nickte Amir. Der Große schrie ihn an: „Go Turkey, no Europe!“ Amir blickte verschreckt von einem zum anderen. „Go Africa!“ Sie alle riefen etwas, Amir sah, wie sie immer aufgeregter wurden, wie ihre weit aufgerissenen Augen über ihm leuchteten, der Anführer brüllte etwas und der Dünne übersetzte mit seinem Schulenglisch: „No Islam here. No terrorist. You want kill people?“ Amir begriff nicht, was sie von ihm wollen. Er versuchte sich etwas zu erklären, aber der Anführer gab ihm eine Ohrfeige. Der Große brüllte: „You want fuck white woman?“ und trat Amir in den Arm.
Šindelka schildert die gewalttätige Handlung der Jugendlichen, als wären diese in Trance, als wären sie keine Menschen, sondern Roboter, die nicht in der Lage sind, für eine Weile still zu sein und nachzudenken. Es handelt sich um die angespannteste und härteste Stelle des Romans. Es ist jedoch auch die einzige Stelle, an der die Wahrnehmung dieser kindlichen Gewalttäter eine überraschende Wendung erfährt. Nachdem sie die Narbe des Palästinensers entdecken, lassen von ihren Opfern ab.
Amirs Bruder flüchtet unterdessen vor der Polizei und entkommt auf einem Güterzug. Es fehlt ihm jedoch der Mut während der Fahrt durch eine Stadt abzuspringen. Er fährt weiter, bis er in einer Fabrik ankommt. Hunderte Tonnen von Stahl werden hier hin- und hergeschafft wie Federkissen. Jederzeit hätte einer der Arbeiter an diesen Maschinen den Syrer bemerken können. Doch es war ihnen wichtiger, sich auf die eigene Arbeit zu konzentrieren und nichts zu verpatzen. Obwohl dann doch eine dieser „lebendigen Maschinen“ den Flüchtling aus einer anderen Welt bemerkt, muss die Fließbandarbeit weiter gehen. Der Arbeiter erlebt den Syrer als eine Art Erscheinung, die er bald darauf wieder vergessen wird.
Europa ist verschlafen und müde
Šindelka konzentriert sich in seinem Buch sorgfältig auf Details, die mit Beton und Stahl verbunden sind. Er beobachtet wie etwas rostet, bricht und Furchen bekommt. Genauso wie auch der menschliche Körper rostet, bricht und Furchen bekommt, wenn er die Hoffnung, ein neues Leben zu finden, allmählich aufgibt. Dasselbe gilt auch für Europa, das verschlafen und müde ist, es bricht und rostet. Das fast außerirdische Zusammentreffen von einem der Brüder mit einer „eingeborenen“ Frau kommt ohne Wörter aus: Der Leser fühlt die Angespanntheit und Angst der beiden, den Konflikt zweier Welten, das Unverständnis, das möglicherweise auch für Kriege und Leiden verantwortlich ist.
Šindelka setzt die Geschichte der zwei Brüder zusammen aus Gefühlen, Schmerzen und Situationen, die beide während ihrer Reise erleben. Es ist kein Wunder, dass der gelernte Drehbuchautor in der Gestalt filmischer Bilder denkt. Dies ruft beim Leser mitunter sehr grobe Bilder hervor, etwa wenn der Palästinenser von seiner Nierenoperation erzählt. Šindelkas Novelle ließe sich insgesamt als filmische Erzählung betrachten, die der Drehbuchautor verfasst, bevor er das eigentliche Drehbuch schreibt.
Er breitete eine Decke über den Palästinenser, legte ihm die Hand auf die Schulter und saß so lange neben ihm. Er hörte seinen ruhigen Atem. Dieser siebzehnjährige Junge war für immer verloren auf dieser Welt, tablettenabhängig, mit einem Loch am Rücken, aus das man ihm ein Stück Körper entfernte. Amir sah seine eigene Hand, seine eigenen Finger, sie zitterten. Er nahm das Telefon. Schon vor einer Woche hatte er sich eine Karte gekauft. Jeden Tag schrieb er seinem Bruder, kontrollierte alle Profile, kontrollierte die Verzeichnisse der vermissten Personen. Alles blieb still, schlafend. Die Nachrichtenbeiträge wurden länger, setzten sich fort bis irgendwohin ins Dunkle. Er schrieb: Ich fahre alleine weiter. Er ging weg, zählte das Geld, steckte dem Palästinenser etwas davon in die Tasche, drehte sich noch ein letztes Mal um und schloss die Tür hinter sich.
Vergeblichkeit einer Enzyklopädie
Der interessanteste Moment dieses „filmischen Buches“ ist die Szene, in der einer der Brüder in Tränen ausbricht, als ihm ein Obdachloser in einem leer stehenden Haus einen alten Schuh anbietet. Seinen hatte der Syrer beim Aufspringen auf den Güterzug verloren. Ergreifend ist auch eines der Randmotive, das Herumklicken zwischen Schlagwörtern auf Wikipedia: der Kontrast zwischen der „größten“ Enzyklopädie der Welt und dem tatsächlichen Leid, das beide Brüder während ihrer Flucht erfahren. In diesen angespannten Augenblicken wird Wikipedia vollkommen nutzlos.
Das Thema der sogenannten Flüchtlingskrise verlockt zur künstlerischen Darstellung. Marek Šindelkas Materialermüdung liest sich zügig, aber kaum etwas verleitet dazu, einzelne Stellen erneut zu lesen, um eingehend über das Buch nachzudenken. Die Sätze geben nur Andeutungen, Fragen werden fast keine gestellt. Es wird ununterbrochen beobachtet – was wo passiert, was sich jemand denkt. Diese konstatierende Schroffheit wird ergänzt durch das lyrische Ich des Autors und die Reife im schriftlichen Ausdruck.
Perspektive der Eingeborenen
Der Plot ist mehr oder weniger fiktiv, wenn auch durch die Berichterstattung inspiriert. Er entspringt aber eben nicht den direkten Erfahrungen einer Person, die tatsächlich durch Europa reiste. Beide Hauptfiguren verlangen nach einer gründlicheren Charakterzeichnung. Sie wirken nicht glaubwürdig, eher wie Engel, die von Europa und dem Leben schikaniert werden. Warum sind die beiden nicht ein wenig komplexere Persönlichkeiten, die auch mal etwas kaputt machen oder ihre Wut herauslassen? Auch die Perspektive der Europäer fehlt. Sie darzustellen als Sklaven des Kapitalismus, die sich vor dem Terrorismus fürchten, ist einfach nicht ausreichend.
Sowohl Flüchtlinge als auch Europa bleiben in der Beschreibung flach. Es fehlt eine tiefere Wahrnehmung beider Seiten. Bei Lesern, die bereits eine ablehnende Haltung gegenüber Flüchtlingen haben, könnte dies genau das Gegenteil von dem hervorrufen, was der Autor beabsichtigte – nämlich ein tiefer gehendes Verständnis für die Problematik. Das Flüchtlingsthema dient bloß als Aufhänger, um Kritik an der gegenwärtigen Müdigkeit in Europa zu äußern. Falls es dem Autor um eine Reflektion über Europa geht, hätte er einen anderen, weniger schwarzweißen Zugang und eine andere Perspektive wählen sollen.
Übersetzung: Julia Miesenböck