Kultur

Wem gehört dieses Land?

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Aus dem Stück „Fidlovačka aneb Kdo je My?“ („Fidlovačka oder Wer ist Wir?“)

Die freie Theatergruppe Spielraum Kollektiv zeigt im Prager Archa-Theater eine Inszenierung zum Thema Patriotismus. Im Stück „Fidlovačka aneb Kdo je My?“ („Fidlovačka oder Wer ist Wir?“) können die Zuschauer auf ungezwungene und witzige Weise ihr eigenes „Tschechentum“ entdecken – mithilfe der gewöhnlichen Lebensgeschichten von „Alltagsexperten“.

Es gibt Augenblicke, die unsere Auffassung von der Heimat ändern. Zum Beispiel, wenn der Präsident des Landes sagt: „Dieses Land ist unser Land. Und dieses Land ist nicht für alle, und kann nicht für alle sein.“ Gerade mit dem Abspielen der Tonaufzeichnung dieser kontroversen Behauptung des tschechischen Präsidenten Miloš Zeman endet die Inszenierung der Gruppe Spielraum Kollektiv. Wer ist Wir? Was alles ist Unseres? Und gehören zum Wir auch diejenigen, die mit Zemans Behauptung aus dessen Weihnachtsansprache 2015 nicht einverstanden sind? Das Spielraum Kollektiv bietet einen Streifzug durch die verschiedenen Denkansätze, die unsere Beziehung zu dem prägen, was wir Zuhause nennen.

Heimatgefühl fällt nicht vom Himmel

Josef Kajetán Tyl, drei Frauen, die keine „reinen Tschechinnen“ aber in Tschechien zu Hause sind, der Aktivist John Bok, Sohn eines Tschechen und einer Engländerin, der als Dissident durch längjährigen Kampf für Freiheit seine Beziehung zum Heimatland bewiesen hat – Sie alle bürgen mit ihren Biographien dafür, dass Heimatgefühl nicht vom Himmel fällt, sondern ein lebenslanges Suchen und Finden ist. Bis man schließlich erkennt, dass man die Heimat in sich selbst trägt, dass man selbst die Heimat ist, das Leben, das sich zusammensetzt aus vielen Kleinigkeiten, die sich nicht immer genau verorten lassen.

Mit dem Patriotismus ist es etwas komplizierter. Hierbei geht es nicht mehr nur um den Menschen allein, sondern es geht um seine Verbundenheit mit einem Ganzen, das über den Einzelnen hinaus geht, und mit dem dieser sich identifiziert. Heda wanderte aus nach Deutschland, wo sie eine Familie gründete. Mit dem Herzen blieb sie aber dennoch in Tschechien. Die Reporterin Tatyana hat einen starken deutschen Akzent, aber sie ist Halbtschechin und zu Hause ist sie in der Mährischen Walachei. Kati hat einen noch stärkeren Akzent. Ihre beiden Eltern sind Tschechen, aber sie ist in Deutschland aufgewachsen. Kati liebt die tschechischen Hügel und empfindet sie als bedeutenden Teil ihres „Tschechischseins“.

Alle drei beschreiben auf unsentimentale Art ihre Lebensgeschichte und ihre Beziehung zu Tschechien: Dabei geht es nicht nur um die Sprache, sondern auch um Orte, Gerüche, Geräusche, konkrete Menschen und deren Nähe. Der stärkste Moment war für mich Katis nüchterne Beschreibung des Hauses ihrer Großeltern in Jablonec nad Nisou. Ein Video des Hauses wurde auf den Boden projiziert. Kati sagt dazu: „Ein Versprechen an Opa, dass ich mich um das Haus kümmere.“ In diesem Moment geht es nicht nur um das Haus und den Opa, sondern um sehr viel mehr. Es geht um das Gefühl, dass man manche Orte einfach nicht aus dem Kopf bekommt, selbst wenn man Gebäude verkauft oder verlässt. Sie leben in uns weiter.


Tyl als Hipster-Patriot

Der Dramatiker Josef Kajetán Tyl führt vor, wie das mit seinem Stück Fidlovačka eigentlich war. Nach der Premiere wurde es als Flop angesehen, Erfolg feierte es erst im Jahr 1917, also 83 Jahre nach der Uraufführung. Spielraum Kollektiv zeigt den nationalen „Wieder-Erwecker“ als Hipster-Patrioten mit einem übersteigerten Selbstbewusstsein, aber auch als verspielt und über den Dingen stehend. Auf seine Dramen ist Tyl stolz, aber zum Ruhm eines seiner Lieder kam er ein bißchen wie der Blinde zur Geige. Tyls Wiedergeburt auf der Bühne ist wirkungsvoll und schlau eingefädelt, sie versetzt uns zurück zu den historischen Anfängen eines bewussten Tschechentums, wenn auch die Ansprache des Tyl-Darstellers Jakub Čermák etwas weniger Überzeichnung vertragen hätte. Oder gehört die Überzeichnung zum Patriotismus einfach irgendwie dazu?

Ich könnte mir eine besser ausgearbeitete Textvorlage vorstellen, flüssigere Übergänge zwischen den einzelnen Szenen und ein gelungeneres Ende, in das sich das Publikum so einbringt, wie das vorgesehen war. Aber das sind Details. Wesentlich ist für mich die Energie, die die Vorstellung ausstrahlte – die Verwendung der formalen Mittel (Interviews, Quiz, Videos, Tonaufzeichnungen, Tanz) begeisterte mich. Sie schaffen eine dynamische, nachdenkliche Atmosphäre, in der mehr Fragen gestellt werden, als sich Antworten finden, und in der die Schauspieler-Darsteller zugeben, dass sie auch nicht viel mehr wissen als wir Zuschauer. Weil man außerdem nicht sitzt, sondern steht und auch frei im Raum herumgehen kann, entsteht nicht der klassische Graben zwischen Schauspielern und Publikum. Das ist zweifellos ein Verdienst aller Beteiligten und auch der Regisseurin Linda Straub, deren Inszenierung das Band aus den vorgetragenen Schnipseln der „Alltagsexperten“ zuammenhält.

Seit der Schriftsteller David Zábranský im vergangenen Jahr den Helden seines Stückes Herec a truhlář Stanislav Majer mluví o stavu své domoviny (Der Schauspieler und Schreiner Stanislav Majer spricht über den Zustand seines Heimatlandes) schamlos das Wort „Heimatland“ (domovina) schreien ließ und es durch Wiederholungen auf der Bühne und in den Medien teilweise seiner Altertümlichkeit entledigte, ist jetzt wahrscheinlich das Wort „Vaterland“ (vlast) an der Reihe. Sich auf sein Heimat- oder Vaterland zu beziehen ist plötzlich nichts Peinliches, sondern es ist cool und in. Heimatland und Vaterland bleiben aber nur Worte, wenn wir sie nicht mit Inhalt füllen. Das Theaterstück Fidlovačka oder Wer ist Wir? ist eine gute Gelegenheit, um nach der eigenen Beziehung zum Vaterland zu suchen.

Nächste Vorstellungen:

21. und 22. April 2017, sowie 14. und 15. Mai 2017, jeweils um 20 Uhr im Prager Divadlo Archa Mehr...

Der Titel nimmt Bezug auf das Theaterstück Fidlovačka aneb Žádný hněv a žádná rvačka von Josef Kajetán Tyl aus dem Jahr 1834. In dem Stück erklingt unter anderem das Lied Kde domov můj? (Wo ist meine Heimat?), das seit 1918 die Nationalhymne der Tschechoslowakei bzw. Tschechiens ist.
Josef Kajetán Tyl (* 1808 † 1856) war ein tschechischer Dramatiker und ein bedeutender Vertreter der tschechischen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert. Bekannt ist Tyl vor allem für sein Theaterstück Fidlovačka aus dem Jahr 1834, in dem unter anderem das Lied Kde domov můj? (Wo ist meine Heimat?) erklingt, das seit 1918 die Nationalhymne der Tschechoslowakei bzw. Tschechiens ist.
Josef Kajetán Tyl war ein bedeutender Vertreter der tschechischen Nationalbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der historische Prozess wird in der Geschichtsschreibung als „Nationale Wiedergeburt der Tschechen“ (České národní obrození) bezeichnet. Zu den Protagonisten der „Nationalen Wiedergeburt“ zählen außer Tyl unter anderem auch Josef Jungmann, Karel Hynek Mácha, Božena Němcová, Karel Jaromír Erben und František Palacký. Sie gelten als so genannte obrozenci oder buditele, was auf Deutsch etwa Erwecker bzw. Wieder-Erwecker bedeutet.
In Tyls Stück Fidlovačka wird das Lied Kde domov můj? (Wo ist meine Heimat?), das heute die Nationalhymne Tschechiens ist, von der Figur des blinden Geigers Mareš gesungen. Die Phrase „wie ein Blinder zur Geige kommen“ wird im Tschechischen ähnlich verwendet wie im Deutschen etwa die Redewendung „wie die Jungfrau zum Kind kommen“.
Tereza Semotamová
Übersetzung: Patrick Hamouz

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März 2016
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