Kultur

Tanz zwischen Leipzig, Dresden und Prag

Foto: © HELLERAU | Europäisches Zentrum der KünsteFoto: © Michal Hančovský
Die audiovisuelle Performance „Guide“ von Věra Ondrašíková

Das Festival Dance transit bietet reines Tanztheater, aber auch Crossover-Verbindungen mit anderen performativen Künsten. Nicht nur dank „moving audience“ belebt das Festival einen deutsch-tschechischen Kulturtransfer wieder. Die Theaterwissenschaftlerin Jitka Pavlišová war für jádu dabei.

Das deutsch-tschechische Tanzfestival Dance transit.Praha.Dresden.Leipzig ist immer noch ein Neuling in der Szene. In diesem Jahr fand nach 2015 erst die zweite Auflage des als Biennale konzipierten Festivals statt. Große Aufmerksamkeit verdient Dance transit aber, weil es die üblichen Festivalpfade verlässt. Ausrichtung und Programm bieten eine Plattform für die kreative Zusammenarbeit zwischen Prag, Dresden und Leipzig.

Die Städte sind sich nicht nur geographisch recht nah. Dance transit ist ebenso eine gewisse Wiederbelebung des Kulturtransfers und der künstlerischen Einflüsse zwischen den drei Städten. Tanzhistorisch prägte der Einfluss aus Dresden-Hellerau und dem dortigen Festspielhaus den modernen Tanz in der Tschechoslowakei während der Avantgarde der Zwischenkriegszeit. Konkret betrifft das den Ausdruckstanz, für dessen Entwicklung besonders Deutschland und eben Hellerau sehr wichtig waren.

Wie schon der Festivalname selbst aussagt, ist das Festival darüber hinaus transitorisch konzipiert. Das Programm spielt sich nicht nur einem Ort oder einer Stadt ab, sondern in allen drei teilnehmenden Städten. Nicht nur die Künstler fungierten als Verknüpfung, sondern auch das Publikum. Als „moving audience“ kann es Ausflüge mit dem Bus unternehmen, um Festivalveranstaltungen in einer der Städte zu besuchen.

Ganz Hellerau steht im Zeichen des Festivals

Foto: © HELLERAU | Europäisches Zentrum der Künste
„Constellations I. Before I Say Yes“ | Spitfire Company & Orchester BERG

In diesem Jahr eröffnete die Premiere der neuen Choreographie Constellations I. Before I Say Yes des tschechischen Ensembles Spitfire Company das Festival Dance transit in Prag. Die Inszenierung entstand in Kooperation mit dem Orchester BERG. Dieses besteht aus jungen tschechischen Musikern, die bereits erfolgreich mit Persönlichkeiten des Musiktheaters wie etwa Heiner Goebbels zusammengearbeitet haben. Schon mit diesem Startprogramm knüpften die Organisatoren an die erste Ausgabe von Dance Transit im Jahr 2015 an. Gerade das Ensemble Spitfire Company gewann damals für One Step Before the Fall den Hauptpreis des Festivals und damit eine finanzielle Unterstützung und eine Residenz, um eine neue Tanzinszenierung entwickeln zu können.

Für die restlichen zwei Festivalwochen zog Dance transit dann weiter in die deutschen Städte. Vom 21. Bis 29. April fand es in Dresden im Europäischen Zentrum der Künste Hellerau statt, am Abschlusswochenende dann gleichzeitig in Dresden und im Leipziger Theater Lofft.

Ich habe einen Teil des Dresdener Programms von Dance transit miterlebt und war im wahrsten Sinne des Wortes „gefangen“. Ganz Hellerau steht im Zeichen des Festivals – auch abseits der allabendlichen Vorstellungen und den Ankündigungen auf sie. Ebenso gab es Workshops zu Lichtdesign, Tanzübungen für Profis und Amateure, oder auch den Tanzworkshop ArtRose für Interessierte über 60 Jahren, eine sogenannte Lounge, organisiert vom TanzNetzDresden, während der das Schaffen und die Kooperationen einzelner Choreographen und Tänzer aus Dresden vorgestellt wurde. Dabei wurde auch über die Möglichkeit diskutiert, sich an der Bewerbung Dresdens als Europäische Kulturhauptstadt 2025 zu beteiligen.

Im Begleitprogramm wurde mit der Veranstaltung Check the Czechs die gegenwärtige tschechische Tanzszene vorgestellt. Laut den vortragenden Experten besteht deren spezifische Qualität vor allem in der präzisen Tanzausbildung und der physischen Verfassung der Tänzer. In den letzten Jahren sei aber auch immer stärker eine Zusammenarbeit von Tanzensembles mit jungen Vertretern der Theaterregie zu beobachten. Das erweitert die dramaturgischen Möglichkeiten der (Tanz-)Kunst. Die allgegenwärtige Tanzstimmung in Hellerau ergänzte die Fotoausstellung insTANZ von Michal Hančovský, der sich gerade der Dokumentation flüchtiger Künste wie Tanz und Theater verschrieben hat.

Kratzen an den Grenzen physischer Aktion

Foto: © HELLERAU | Europäisches Zentrum der Künste
Das tschechische Ensemble DOT504 betont die Physis des menschlichen Körpers.

Im Hauptprogramm sprachen mich vor allem drei Tanzchoreographien an. Verbindendes Element hinsichtlich ihrer Form und der Bedeutung war ebenfalls der Transitcharakter – hier allerdings im Sinne von „weiterführend“. Die audiovisuelle Performance Guide von Věra Ondrašíková stellt die Frage, ob wir etwas in unserem Leben anders machen würden, wenn wir wüssten, wie alles eines Tages endet? Was würde geschehen, wenn wir uns nicht danach richten würden, wer die ganze Zeit auf uns wartet, wer uns begleitet und uns helfen will?

Diese fast schon metaphysischen Fragen zeigt die Choreographie als Pilgern eines Einsamen und des Aufeinandertreffens und sich Verpassens mit seinem „Führer“. Die Einzigartigkeit dieses Werkes liegt in der präzisen Arbeit mit dem Lichtdesign, im perfekten Zusammenspiel des Körpers in Bewegung und den visuellen Effekten, beziehungsweise Bildern, die vor unseren Augen entstehen und „erzählen“. Das Transitorische an Guide ist, wie außergewöhnlich und gleichzeitig einfach das Stück die Wahrnehmungs- und die Vorstellungskraft der Zuschauer voranbringt. Dadurch reflektiert sie die ewige Illusion des Theaters und transformiert sie in völlig neue Dimensionen.

Das tschechische Ensemble DOT504 betont schon seit seinen Anfängen besonders die physische Präsenz des menschlichen Körpers und kratzt oftmals auch an den Grenzen physischer Aktion. In Dresden war von DOT504 die mittlerweile schon international ausgezeichnete Inszenierung Collective Loss of Memory zu sehen. Sie thematisiert die menschliche Physis, genauer gesagt die männliche Kraft, aber auch deren latente Tendenz zu Gewalt und Übergriffigkeit. Transitorisch daran ist dabei die Aktivierung des Publikums selbst, die Veränderung der Zuschauerwahrnehmung auf das Bühnengeschehen. Die ist von Beginn an dramaturgisch gekonnt gerichtet auf eine unauffällige, ja fast schäkernde Manipulation mit dem Publikum, das die ganze Zeit über diese physischen Spielchen und die Verherrlichung der Männlichkeit scherzhaft lacht. So ist dann aber der folgende Bruch im letzten Teil ein umso größerer Schock ist. (Mehr wird nicht verraten, um für alle zukünftigen potentiellen Zuschauer die gleiche verblüffende Wirkung zu erhalten!)

Als drittes möchte ich noch die Choreographie Achse, Ader, Zeh des deutschen Trios Anny Till, Ulrike Feibig und Juliane Schmidt erwähnen. Das zu einem gewissen Grad konzeptuelle Werk erschafft in nicht ganz 40 Minuten aus einer Symbiose von Wort, Bild und Tanz ein eindrucksvolles performatives Zeitraumkontinuum. Transitorisch ist gerade in dieses Crossover mehrerer künstlerischer Formen in eine gemeinsame.

In letzter Zeit – sicher auch aufgrund langjähriger Erfahrungen – denke ich oft nach über meine eigene subjektive Unterscheidung der Begriffe (Werk-)Schau und Festival und über die Relevanz kulturelle Veranstaltung als dieses oder jenes zu deklarieren. Ein Festival ist für mich nämlich immer etwas mehr, ein Erlebnis, das über die Präsentation der zeitgenössischen Kunst hinausgeht, durch welchen gemeinsamen Nenner diese auch immer verbunden ist. Es ist mehr gegenseitiges Kennenlernen und Knüpfen von Kontakten, es sind mehr offizielle und gänzlich informelle Diskussionen, mehr freundschaftliche Atmosphäre und eine gewisse „Aufgeladenheit“ des Programms. Ein Ereignis, bei dem man schon während der ersten beiden Tage „ alte bekannte Gesichter“ erkennt. Gerade das alles war für mich der diesjährige Jahrgang des Festivals Dance transit. Praha. Dresden. Leipzig. Und gerade deswegen bestätigt es alles, womit es sich selbst profiliert. Ich freue mich auf ein Wiedersehen in zwei Jahren...

„Lust auf Tschechien zu machen, bleibt eine schwere Aufgabe“
Foto: © Stephan Floß
Das Festspielhaus Hellerau

Ein Interview mit Frauke Wetzel, Mitorganisatorin des Festivals Dance transit.Praha.Dresden.Leipzig und am Europäischen Zentrum der Künste Dresden-Hellerau zuständig für Publikumsentwicklung, Netzwerke und kulturelle Bildung.

Wie wählt ihr die einzelnen Choreografien und Tanzstücke aus?

Wir haben beim zweiten Dance transit als Team entschieden: Carmen Mehnert, Programmleiterin Performing Arts in Hellerau, Dramaturgin und bereits Jurymitglied bei der Tschechischen Tanzplattform, außerdem Anna Till als Vertreterin des TanzNetzDresden und ich. Wir haben uns aber auch beraten lassen.

Wir kennen die Leiterinnen vom Tanec Praha und des Theaters Ponec seit langem, ebenso den Leiter des Archa Theaters. Zuzana Hajková war darüberhinaus drei Monate im Team in Hellerau. Sie alle haben uns viele Hinweise zu Festivals, Companies und Ausbildungsstätten geben lassen.

Genauso funktioniert es umgekehrt auf der tschechischen Seite. Wir von Hellerau geben Tipps und Empfehlungen, die Vorschläge kamen jedoch vom TanzNetzDresden.

Für uns sind wichtige Kriterien die TänzerInnenqualität, der zeitgenössische Ansatz sowie die Erarbeitung eines Themas. Wir sehen viele sehr ähnliche Entwicklungen des Tanzes in Sachsen und Tschechien. Dies wollten wir dem Publikum zeigen, es erfahrbar machen. Einige Kompanien verfolgen und fördern wir bereits länger, wie die Spitfire Company, die als Gewinner des Koproduktionspreises 2015 auch bereits als Programmpunkt 2017 gesetzt war.

Wie war die Resonanz auf Dance transit 2017 beim Publikum und in der Öffentlichkeit?

Wir hatten in Dresden rund 1200 Besucher. Das ist eine gute Zahl, aber keine überragende. Es bleibt nach wie vor eine schwere Aufgabe, einem Publikum in Dresden Lust auf den östlichen Nachbarn und seine zeitgenössische Kultur zu machen. Noch dazu in einem Haus wie Hellerau, bei dem arabische, brasilianische oder afrikanische Kultur gezeigt werden und auf den ersten Blick exotischer und attraktiver auf das Publikum wirken. Wir werden nicht nachlassen, Lust auf ein neues, ein spannendes Bild von Tschechien zu kreieren und diesem Raum in Hellerau zu geben!

Das Festival ist als Biennale konzipiert, welche künftigen Perspektiven, Pläne, Ideen im Zusammenhang mit diesem Festival habt ihr?

Diese Frage bleibt noch offen, da in Hellerau ein Intendatenwechsel im Jahr 2018 ansteht und wir noch nicht wissen, welche Ausrichtung die neue Intendatin nehmen wird. Aber sie hat bereits Dance transit 2017 besucht und viel Interesse an der tschechischen Szene, Performing Arts und Tanz, gezeigt.

Die verbundenen Institutionen werden weiter zusammen arbeiten, einiges auch fortsetzen. Direkte Verbindungen der Künstler sind hergestellt und werden nun intensiv genutzt werden – auch unabhängig von dem Festival.

Text & Interview: Jitka Pavlišová
Übersetzung: Patrick Hamouz

Copyright: jádu | Goethe-Institut Prag
Juni 2017
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