Leben

„Eine Stadt kann nicht nur schön sein“

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Stefan Rettich ist Urbanist, Architekt, Raumexperte. Für jádu warf er einen kritischen Blick auf Prag. Foto: © Martin Nejezchleba

Stefan Rettich plant mit seinem Studio „KARO* Architekten“ Bibliotheken im Freien, mit seinen Studenten in Bremen untersucht er, wie urbane Orte Gewalt fördern. Rettich ist Experte für Raum, Kommunikation und Architektur. Auf einem Spaziergang durch Prag nahm er drei Plätze in der Prager Innenstadt unter die Lupe.

Kein Platz für Aufenthalt

Náměstí republiky, Platz der Republik: Diesen Namen hat die großzügig angelegte Fußgängerzone nördlich des Pulvertums nicht zufällig. Am 28. Oktober 1918 wurde hier, im pompösen Jugendstilgebäude des Gemeindehauses, die Erste Tschechoslowakische Republik ausgerufen. Über Jahrzehnte war der Platz Zentrum des gesellschaftlichen Lebens in der Hauptstadt. Der Platz ist Verkehrsknotenpunkt und Einkaufsparadies. Bereits Ende der 1970er entstand das damals größte Kaufhaus des Landes, Kotva (Anker). 2007 wuchs eine weitere, gigantische Shopping-Mall aus dem Boden. Von der historischen Kaserne, die früher an der Stelle des „Palladiums“ stand, blieb nur die Fassade.

Náměstí republiky, Foto: © Martin Nejezchleba

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Die Stadt im Wartezustand

Der Masaryk-Bahnhof: Die älteste Bahnstation Prags. Täglich steigen hier zehntausende Pendler aus Regionalzügen und finden sich mitten in der Innenstadt wieder. Die verglaste Eingangshalle erstrahlt seit der Renovierung 2011 im ursprünglichen Glanz der Industrialisierung. Der Rest wirkt trostlos: modrige Lagerhallen, rostige Bauzäune, ranzige Bahnhofskneipen. Seite Jahren wird über eine neue Nutzung der Brachflächen rund um die Schienenanlage diskutiert. Entstehen sollen hier – was sonst – Büropaläste aus Stahl und Glas.

Masaryk-Bahnhof, Foto: © Martin Nejezchleba

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Der selbsterklärende Platz

Der Wenzelsplatz: Beim Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts standen sich hier im August 1968 sowjetische Panzer und tschechische Demonstranten gegenüber. Hier spielten sich im Herbst 1989 die Schlüsselszenen der Samtenen Revolution ab. Der Wenzelsplatz ist bis heute das urbane Herz der Stadt, belebte Einkaufsstraße, Treffpunkt für Junkies. Der untere Teil des Platzes ist Fußgängerzone, vorübergehend. Mehrere Polizeiwägen hindern Autos an der Einfahrt. Unter dem klassizistischen Prachtbau des Nationalmuseums, der Dominante am oberen Ende des Boulevards, rollen täglich bis zu hunderttausend Autos über die Stadtautobahn.

Wenzelsplatz, Foto: © Martin Nejezchleba

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Stefan Rettich ist Theoretiker und Praktiker zugleich. An der School of Architecture Bremen unterrichtet er Theorie und Design. Mit seinem Büro „KARO* architekten“ entwickelt er handfeste Lösungen für privaten und öffentlichen Raum. Mit KARO stellte auf der elften und dreizehnten Architekturbiennale in Venedig aus und gewann den Europäischen Preis für urbanen öffentlichen Raum. Zu seinen bekanntesten Projekten gehört die Freilichtbibliothek in Magdeburg.

Náměstí republiky, Der Platz der Republik

Was ich positiv an dem Platz finde ist, dass es Gebäude aus unterschiedlichen Zeitaltern gibt. Der Platz ist stark historisch dominiert, aber so ein 70er Jahre-Kaufhaus, obwohl es ganz anders ist, fügt sich auch ganz gut ein, auch im Zusammenhang mit der U-Bahnstation, die da raus kommt. Dann gibt es auf der anderen Seite ein vielleicht nicht besonders tolles Gebäude aber irgendwie nimmt es sich auch so ein bisschen zurück. Was wird das sein? Das ist schon irgendwie postsozialistisch. Irgendwie ist das, obwohl es eine sehr heterogene Bebauung gibt, doch eine gewisse Einheitlichkeit, und eigentlich kein unangenehmer Platz.

Aber man merkt auch, es ist kein Platz für den Aufenthalt. Aber so scheint er auch nicht konzipiert zu sein. Die Leute laufen von A nach B, von C nach D. Das ist so ein Platz, den man einfach überquert. Und das braucht eine Stadt auch: Flächen, die man einfach überschreitet. Man braucht nicht nur Aufenthaltsräume sondern auch Transiträume.

Und zu der Shopping-Mall: Es gibt einfach diese gesellschaftliche Tendenz. Um die kommt man offenbar nicht herum. Es gibt zwei Alternativen: Entweder die Malls entstehen auf der grünen Wiese, was unglaublich viel Verkehr und so weiter nach sich zieht, oder man integriert sie in die Städte. Dann gibt es wiederum zwei Fragen. Erstens: Ist es architektonisch gelungen? In diesem Fall kann man sagen: Okay, diese Eingangsfront ist ein bisschen aufgemotzt, aber im Grunde ist es in ein altes Gebäude integriert, man muss mal schauen, wie es innen gemacht ist. Die zweite und zentrale Frage ist, ob das sozusagen eine integrierte Mall ist, also ob sie sich vernetzt mit dem bestehenden Straßensystem oder ob sie einfach nur wie ein Staubsauger die Leute abzieht.

Ein klassisches Beispiel einer traditionellen Mall, einer Passage, ist die Galleria Vittorio Emanuele in Mailand. Die verbindet einfach den Domplatz mit dem Piazza della Scala, mit der Mailänder Scala. Und damit ist sie integriert, verbindet zwei ganz wichtige Plätze und funktioniert wie eine Straße. Und gegen Einkaufsstraßen gibt es eigentlich nichts einzuwenden.
Der Masaryk-Bahnhof

Eine Konversionsfläche, das heißt, dass sich die Nutzung verändern wird. Meistens sind das altindustrielle Flächen oder Flächen, die irgendwann während der Industrialisierung intensiv genutzt wurden und jetzt eben nicht mehr genutzt werden. Man kann sie der Stadt zurückführen. Aber man sollte hier nichts machen, wenn es keinen extremen Nachfragedruck gibt. Um einfach irgendetwas zu machen, dafür scheint mir die Fläche irgendwie zu zentral zu sein. Sie wirkt jetzt auch nicht besonders negativ auf die Stadt… gut, die Zaunanlage außen herum ist vielleicht nicht besonders schick. Aber das muss eine Stadt auch vertragen. Die kann nicht überall nur total schön sein.

Gerade in einer Stadt wie Prag, die ja doch sehr dicht und homogen bebaut ist, ist es aus meiner Sicht überhaupt kein Problem, dass da mal ein paar Brüche zu sehen sind und so eine Stadt im Wartezustand. Zu Prüfen wäre eher, wie das in der strukturell in der Stadt liegt, ob man eventuell mit einer Grünverbindung bestimmte Stadtteile verbinden könnte. Entlang der Bahnlinie werden ja auch oft Stadtteile durchschnitten. Vielleicht kann man das nutzen, um parallel der Bahngleise eine wichtige Radwegverbindung oder eine Grünzone einzurichten. Ohne Not sollte man hier nichts machen.

In Osteuropa ist der Reurbanisierungsprozess noch nicht so stark angekommen. Solche Flächen sind dann eigentlich als Reserveflächen extrem wichtig. Denn irgendwann wird der Druck größer werden und wenn der Druck größer wird, hat man auch viel bessere Möglichkeiten, mit den Investoren bessere Qualitäten zu erzielen. Es schadet nicht eine Fläche liegen zu lassen bevor nicht die Nutzung gefunden wurde, die für die Stadt verträglich ist. Also eine reine Bürostadt hier aufbauen? Es wird sich in Prag auch abzeichnen, dass man in innerstädtischen Lagen wieder mehr Wohnraum braucht. Und wenn sich dieser Trend von der Suburbanisierung zur Reurbanisierung einstellt, dann sind genau das die Reserveflächen, die man für neue Wohnungsbauprojekte braucht.
Der Wenzelsplatz

Ich finde es grundsätzlich eine tolle Idee, diese Fußgängerzone erst einmal auszuprobieren. Denn man kann die Wirkung vorab tatsächlich nicht immer abschätzen. Es ist natürlich schon schwierig, dass sie nur über Polizeipräsenz signalisiert wird. Man könnte das schon ein wenig anders andeuten, etwa mit einer temporären Gestaltung. Man merkt aber, dass die Leute ganz selbstverständlich die Straße queren, das macht auf einen sehr entspannten Eindruck.

Man könnte auch über einen Shared Space nachdenken. Das ist eine neuartige Denkweise, dass man eine gemeinsame Fläche für alle Verkehrsteilnehmer macht. Jeder muss auf jeden aufpassen und es regelt sich irgendwie von selbst. Das ist ein neues Verkehrskonzept: man muss die Verkehre nicht immer trennen und jedem seine Spur geben, sondern macht eine gemeinsame Fläche und legt die von der Gestaltung her so an, dass man von einer selbsterklärenden Straße oder einem selbsterklärenden Raum spricht. Jeder der Verkehrsteilnehmer weiß, wie er sich zu verhalten hat. Eine große Fläche, die über farbliche Markierungen oder über einen leichten Belagwechsel etwas anzeigt.

Und dann ist hier auf dem Platz eine ganz große Achse aufgebaut, zum Museum. Wenn man sich vorstellt, dass da oben ein Tunnel wäre und dass sich hier ein großer Shared Space nach oben begibt, das wäre ein großer Gewinn. Es wäre natürlich eine Umgestaltung des Platzes, aber wenn zum Beispiel hier keine Bordsteine wären, alles eben, könnte man trotzdem diesen Mittelstreifen, der auch sehr prägend ist, beibehalten – aber ohne diese starken topografischen Veränderungen.
Martin Nejezchleba

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
Oktober 2013

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