Leben

„Aus der Ferne ist es aufreibender, als vor Ort “

Foto: © Khrystyna & Mykola Maksymenko

Ein Gespräch mit einem jungen ukrainischen Paar in Deutschland

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Foto: © Khrystyna & Mykola Maksymenko

Khrystyna (25) und Mykola Maksymenko (27) sind vor drei Jahren aus der Ukraine nach Deutschland gezogen. Als Teenager beteiligten sich beide an der „Orangenen Revolution“ von 2004. Jetzt sind sie gezwungen, die eskalierenden Ereignisse in ihrer Heimat online zu verfolgen und zu Protesten nach Berlin oder München fahren.

In der Ukraine arbeitete Khrystyna für Radio und Fernsehen und beschäftigte sich mit Politik und Kultur. Zurzeit schreibt sie für deutsche und ukrainische Magazine. Mykola ist Physiker am Max-Planck-Institut in Dresden. Sie sind Teil einer gebildeten, postsowjetischen Generation, die genug von Korruption, Misswirtschaft und Verletzungen von Grundrechten hat. Dem jádu-Autor Navin Hossain teilten sie ihre Sicht der Dinge mit: bezüglich der Massenproteste auf dem Maidan-Platz in Kiew, ihren Begegnungen in Deutschland, dem ukrainischen Rechtsextremismus und der Motivation ihrer Generation zu rebellieren.

Wie fühlt es sich an, die dramatischen Veränderungen in der Ukraine aus der Ferne zu beobachten?

Khrystyna: Es ist schwer, denn alles was wir haben, sind die Nachrichten. Wir haben uns an Protesten in Berlin und München beteiligt und Kundgebungen hier in Dresden organisiert, aber das ist einfach nicht dasselbe.

Mykola: Als die Proteste in Kiew Ende November begannen, waren wir wie gelähmt. Wir sind in der Nacht aufgestanden, nur um zu schauen, ob der Maidan nicht geräumt wurde. Die Ereignisse aus der Ferne zu beobachten ist aufreibender als vor Ort zu sein. Sobald du Teil einer Bewegung bist, beschäftigst du dich mit einer bestimmten Aufgabe und machst dir nicht so viele Sorgen.

Hört sich an, als ob ihr bereits an Protesten in der Ukraine beteiligt gewesen seid…

Khrystyna: Natürlich, 2004 war ich während der Orangenen Revolution in Kiew. 2010 habe ich an den Studentenprotesten gegen den damals neuen Bildungsminister Dmytro Tabachnyk teilgenommen. Er hat die Wiedereinführung von Mechanismen unterstützt, die die Korruption im Bildungssystem begünstigt haben.

Mykola: Ich war 2004 ein Teil von Pora!, einer zivilen Jugendbewegung. Unser Ziel war es, den Leuten klar zu machen, dass die Regierung die Wahlen fälschen wird. Wir haben Aufklärungskampagnen und Proteste im ganzen Land organisiert. Wir waren gewaltfrei, trotzdem hat die Regierung versucht Aktivisten zu belangen. Dennoch war die Atmosphäre damals viel ruhiger als zurzeit.

Die Orangene Revolution ist zehn Jahre her. Ihr müsst damals noch sehr jung gewesen sein. Was motiviert euch und eure Generation auf die Straße zu gehen und zu protestieren?

Mykola: Wir sind eine postsowjetische Generation. Sowjetischen Tugenden, wie Obrigkeitshörigkeit und das klaglose Hinnehmen der Umstände, teilen wir nicht mehr. Wir sind stark, gebildet und motiviert das Land zu verändern. Wir können nicht zuschauen, wie korrupte Politiker unsere Zukunft stehlen.

Khrystyna: Unser Land wurde 1991 unabhängig. Aber bis jetzt ist das politische System nicht reformiert worden. Jeder weiß, dass fundamentale Reformen notwendig sind, aber die Politiker interessieren sich nicht dafür, denn sie nutzen die Schlupflöcher, um Milliarden zur Seite zu schaffen, genau wie Viktor Janukowytsch es tat. Oder schau das Bildungssystem an! Wenn du die Fächer studierst, die eine gute Karriere versprechen, musst du fortwährend deine Professoren bestechen, um gute Noten zu bekommen. Deswegen protestieren die Studenten!

Foto: © Khrystyna & Mykola Maksymenko
Khrystyna und Mykola auf einer ukrainischen Protestkundgebung in Dresden am 28. November 2013, einen Tag vor dem Gipfel von Wilna, auf welchem das Annäherungsabkommen zwischen der Ukraine und der EU unterzeichnet werden sollte. Foto: © Khrystyna & Mykola Maksymenko

Was hat sich verändert, nachdem Janukowytsch 2010 Präsident wurde?

Mykola: Die Dinge haben sich schrittweise zum Negativen verändert, aber wir glaubten, wir würden Janukowytsch letzten Endes abwählen können. Dann hat er die Verfassung geändert, um die Ukraine in eine Präsidialrepublik zu verwandeln. Vorher hatten wir eine parlamentarische Republik, in welcher der Präsident eine eher repräsentative Funktion besitzt. Janukowytsch hat also eine Macht erlangt, für die er nicht gewählt wurde. Auch die Medien wurden weniger unabhängig. Für mich war die Schwelle erreicht, als ein Mann T-Shirts gegen Janukowytsch druckte und man anschließend seine Firma zerstörte.

Khrystyna: Wir konnten uns in der Westukraine bequem isolieren. Dort hat Janukowytschs Partei nicht sehr viel Einfluss. Als Journalistin in Lemberg habe ich keine Zensur gespürt. Wir kritisierten den Präsidenten und seine Partei offen.

Mykola: Vor den Parlamentswahlen 2012 hat die Regierungspartei neue Wahlgesetzte erlassen und angefangen im Parlament heftig zu betrügen. Beispielsweise hat ein Abgeordneter im Namen von fünf gestimmt. Es wurde offensichtlich, dass es keine freien Wahlen mehr geben wird. Beobachter unabhängiger Organisationen wurden dann während der Wahlen aus den Wahllokalen gejagt. Anschließend wurden gefälschte Wahlzettel in die Urnen geworfen.

Khrystyna: Während der letzten drei Jahre wurde das Land im Grunde genommen von Banditen ausgeraubt. Die Wirtschaft ist schrecklich ineffizient. Es kann nicht sein, dass die Sanierung sowjetischer Stadien mehr kostet als der Neubau der Allianz Arena in München. Die Korruption frisst hier ein großes Stück vom Kuchen.

Ihr habt erwähnt, dass ihr auf Demonstrationen in Deutschland gewesen seid…

Mykola: Letztes Jahr haben alle auf die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU gewartet. Als der Premierminister erklärte, das Abkommen sei gestoppt, beteiligten sich einige Freunde an Protesten in Lemberg und Kiew. Wir wollten auch etwas machen und Khrystyna schrieb eine Nachricht in der Facebook-Gruppe „Ukrainer in Berlin“. Das löste die erste Kundgebung in Berlin am 24. November aus. Etwa 200 Menschen nahmen teil. Zu dem Zeitpunkt waren in Kiew bereits 200.000 auf den Straßen.

Habt ihr in Deutschland auf der Straße Reaktionen bekommen?

Khrystyna: Ein Deutscher sagte, wir könnten bei den nächsten Wahlen einen neuen Präsidenten wählen aber sollten jetzt nicht protestieren. Er verstand nicht, dass es keine freien Wahlen mehr gibt. Ein Italiener wollte uns überzeugen, dass die EU mehr negative als positive Seiten hat. Aber wir verbinden die EU mit grundlegenden Menschenrechten, weniger Korruption, freiem Personenverkehr, einem guten Gesundheits- und Bildungswesen. Auf der anderen Seite sitzt ein Klub von Diktatoren.

Mykola: Auf einer Kundgebung in Dresden versuchte ein Mann uns zu überzeugen, dass Proteste nutzlos seien und es nur um Geld ginge. Die EU habe keine Hilfsgelder gewährt, Russland schon. Deswegen sollten wir gehorchen und den Mund halten.

Khrystyna: In Leipzig haben wir uns versammelt, um den Opfern der Proteste zu gedenken. Wir waren sehr traurig, einige haben geweint. Eine russische Frau sagte, wir Ukrainer würden ihre Olympischen Spiele verderben. Aber wir finden, dass Russland unsere Demokratie verdirbt.

Mykola: Meine Freunde verstehen oft nicht, dass diese Demonstranten, die dort mit der Polizei kämpfen, normale Menschen wie du und ich sind, oftmals sehr gebildet – keine Radikalen. In Deutschland scheint man schwer glauben zu können, dass diese Menschen so verzweifelt sein können, dass sie ihr Leben riskieren, um ihre Freiheit zu schützten. Wenn du dir eine Liste der Toten anschaust, wirst du Architekten, Künstler, Schriftsteller und Doktoren unter ihnen finden.

Ein Video von jádu-Autor Sabir Agalarov von den Solidaritätskundgebungen für die Ukraine in Brno (Brünn) am 2. und 5. März 2014

In Deutschland beunruhigt viele die Teilnahme rechtsextremer Gruppen an den Protesten. Wie groß und wie einflussreich sind diese Gruppen?

Mykola: Auf dem Maidan versammeln sich alle Arten von Menschen und der rechte Teil ist nicht derart groß, einige hundert Leute vielleicht. Maidan ist im Prinzip eine Stadt in der Stadt – eine Zivilgesellschaft, der sich die verschiedensten Gruppen anschließen. Der „Rechte Sektor“ mobilisierte sich, als die Polizei begann, die Studenten brutal zu verprügeln. Als Janukowytsch die „Diktatur-Gesetze“ unterschrieb, fingen diese Typen an, die Polizei mit Molotow-Cocktails zu bewerfen, woraufhin auch alle anderen mitmachten. Es war ein verzweifelter Schritt.

Die nationalistische Partei Swoboda hat zehn Prozent der Sitze bei den Parlamentswahlen 2012 gewonnen. Ist das nicht ein Grund zur Besorgnis?

Mykola: Swoboda ist eine populistische Partei, die für sich beansprucht, ukrainischen Patriotismus und das einfache Volk zu vertreten. Aber in Wirklichkeit scheinen sie Geschäftspartner der ukrainischen Kommunisten zu sein, die im Gegensatz sehr pro-russisch eingestellt sind. Im Grunde genommen macht Swoboda keine Politik, sondern Geschäfte. Wir haben das besonders in der Westukraine erlebt, wo sie die Mehrheit in den lokalen Stadträten bilden. Sie begannen endlose Diskussionen um Nationalität und Sprache, während sie insgeheim in schmutzige Korruptionsgeschäfte verwickelt waren.

Khrystyna: Viele liberale und russischsprachige Menschen aus dem Osten wählten Swoboda ins Parlament, weil sie den demokratischen Parteien nicht zutrauten gegen Janukowytsch ankämpfen zu können. Aber es stellte sich heraus, dass Swoboda ein sicheres Spiel mit ihm spielte. Oft halfen sie ihm, indem sie die Spannungen mit der EU verstärkten. Ich glaube kaum, dass sie es schaffen werden, ihr Ergebnis zu wiederholen oder zu verbessern. In Lemberg wurden vor kurzem Swoboda-Abgeordnete von der Bühne geschmissen und ausgebuht.

Der Maidan hat gesiegt, Janukowytsch hat das Land verlassen. Doch angesichts russischer Truppen auf der Krim-Halbinsel bleibt die Situation extrem angespannt. Was wünscht ihr euch für die Zukunft der Ukraine?

Khrystyna: Putin versteht nicht, dass die Menschen in der Ukraine gerade zeigen, dass sie Europa näher kommen wollen. Putins Pläne einer „neuen Sowjetunion“ sind gescheitert. Russische Politiker behaupten, sie wollen die Russen auf der Krim vor ukrainischen Nationalisten beschützen. Das ist absurd!

Mykola: Ich glaube, dass die Ukraine ein fortschrittliches und erfolgreiches Mitglied der EU werden kann. Natürlich haben wir im Moment Angst. Keiner will einen Krieg. Wir können nicht vorhersagen, was morgen passieren wird.

Gemeint war die Ankündigung Russlands im Dezember 2013, ukrainische Staatsanleihen im Wert von 15 Milliarden US-Dollar zu kaufen. Nach dem Umsturz in Kiew kündigte die EU ihrerseits an der ukrainischen Wirtschaft mit 11 Milliarden Euro helfen zu wollen. Anm. d. Red.
Das Interview führte Navin Hossain
am 26. und 27. Februar und am 3. März 2014 per Videokonferenz (Göttingen – Dresden).

Video: Sabir Agalarov

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
März 2014

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