Leben

Das Haar der Prager Y

Foto: ©Foto: © Tomáš Král
Schon seit über zwei Jahren verwandelt sich die Klubovna im Prager Stadtteil Dejvice mehr oder weniger regelmäßig einmal im Monat in einen improvisierten Friseursalon. Foto: © Tomáš Král

Jeder „Generationenwechsel“ provoziert die Gesellschaft. Die neue Generation heißt Y. Sie will die Zeit nicht mit Tätigkeiten verschwenden, die ihr zum Hals heraushängen. Die einen sagen, dass sie den Erdball ins Chaos stürzen wird, andere dagegen sehen in ihr die letzte Hoffnung, sein Ende abzuwenden. Was sich in der Klubovna (etwa: Klubraum) in Dejvice abspielt, würden Traditionalisten wohl als Untergrundarbeit der Prager Y-Subkultur bezeichnen, die es sich zum Ziel setzt, den Nachwuchs in ein Heer von nicht voneinander zu unterscheidenden Individuen zu verwandeln – Hipster.

„Stell den Ventilator da aber anders hin, sonst fliegen hier überall Haare herum“, navigiert Johana den Freund, während dieser sich bemüht, mehr Luft in den Raum hinein zu schmuggeln. Draußen versucht ein Gewitter die Schwüle zu reinigen, drinnen im ehemaligen Pfadfinder-Klubraum ist die Luft aber ohnehin schnell aufgebraucht. Auf alten Stühlen an noch älteren Tischen sitzen etwa zwanzig Leute. Sie unterhalten sich mit Freunden und trinken Bier, manche halten sich abseits und verkürzen die Zeit mit einem Buch oder dem Handy. Hin und wieder wenden sie den Blick zur Bühne und dem, was sie erwartet. Es ist Montagabend, Matěj und Johana schneiden Haare.

Ohne Schnickschnack

Schon seit über zwei Jahren verwandelt sich die Klubovna mehr oder weniger regelmäßig einmal im Monat in einen improvisierten Friseursalon. Entstanden ist die Veranstaltung aus gelegentlichem Frisieren von Freunden, für das die Nachfrage immer weiter gestiegen war. Im normalen Leben außerhalb der Klubovna leben aber weder Johana noch Matěj vom Haareschneiden. Johana ist selbstständige Fotografin und Matěj arbeitet als Grafiker in der Postproduktionsfirma R.U.R. Nach der Arbeit treffen sie sich ab und zu mit Freunden in der Klubovna und manchmal schneiden sie dabei mehr als fünfundzwanzig Frisuren pro Abend. Auf ihrer Facebookseite haben sie inzwischen fast vierhundert „likes“, obwohl sie in der Regel nur durch Empfehlungen von Freunden an weitere Freunde neue Fans gewinnen. Sie brauchen dafür weder professionelle Stühle, noch riecht man hier Peroxide oder vom Föhn verbrannte Haare. Selbst das Wort Kunde wirkt in diesem Kontext einigermaßen deplatziert. Obwohl auf der Bühne eine Person Haare schneidet und eine andere statt in den Spiegel auf die Leute hinunter schaut, bleibt die Kneipenatmosphäre ungetrübt.


Unter den Hockern bleiben Haarbüschel zurück, in den Biergläsern der Frisierten und der Wartenden setzt sich der Schaum. Man redet vor allem darüber, wer woher kommt, wo man war, wo man hinfährt und was man so macht. „Ich konzentriere mich lieber aufs Schneiden, als mir Gesprächsthemen zu überlegen. Eher höre ich mir an, worüber Matěj redet, und beteilige mich dann daran“, erzählt Johana, während sie an dem Kopf vor ihr ein paar Strähnen kürzt. „Es kommt sehr auf die Leute an, ob sie sich unterhalten wollen oder nicht“, sagt Matěj. Und wenn sie schweigen? „Dann schweige ich auch.“ Das Fach Kundenkommunikation, das üblicherweise an Berufsschulen gelehrt wird, haben sie nicht hinter sich, warum auch. Intuition ist in vielerlei Hinsicht verlässlicher und der Zweck des Salons im Klubraum ist es nicht, die Haare in makellose Helmformen zu föhnen und den nächsten Termin zu vereinbaren. Wer mag, kommt wieder.

Viel Zufriedenheit für wenig Geld

Auf dem Stuhl vor Johana sitzt Láďa und blinzelt in die Ferne. „So willst du rumlaufen?“ fragt seine Freundin Bára. Die anderen im Raum drehen sich wie auf Befehl in seine Richtung. Er antwortet mit einem unsicheren Lächeln, denn er kann es sich nur ausmalen, wie er aussieht, wenn Johana ihm auf dem Scheitel eine gelbe Haarklammer installiert, damit sie an die darunter wachsenden Haare herankommt. Zum Schluss gibt es den Augenblick der Überraschung – ein runder Spiegel mit rotem Rahmen enthüllt, was außer ihm bereits alle gesehen haben.

Heute passieren hier aber noch keine radikalen Veränderungen, vielleicht später, wenn die Zögerlichen sich Mut angetrunken haben. Auch wenn das Haarschneiden hier in einer Kneipe stattfindet, mit zu viel Promille gibt es normalerweise keine Probleme. „Einmal wollten sich ein paar betrunkene Jungs in den Haaren wälzen. Aber dass sich hier jemand betrinken und dann Chaos anrichten würde, das passiert nicht“, erzählt Matěj, wie eine Kombination von Kneipe und Friseursalon gelingt.

Beim Salon im Mai wurden auch im nüchternen Zustand längere Strähnen gestutzt. Zwei Freundinnen mit Haaren bis zur Taille besprachen laut, welche von ihnen zu wem gehen soll. „Also, wenn du es viel kürzer willst, dann komm lieber zu mir“, lachte Johana, „Matěj schneidet Frauen nicht so gerne kurze Frisuren.“ Der Prozess des Abschneidens verlief bei beiden fast verdächtig einfach: eine der Freundinnen setzt sich, oszilliert kurz zwischen Duzen und Siezen, sagt, wie sie es haben möchte und sobald der Moment des rot gerahmten Spiegels kommt, konstatiert sie erleichtert, es sei „super“.

Foto: © Tomáš Král
Wer sollte sich an das Ziel des heutigen Abends halten, wenn nicht der, der es sich ausgedacht hat? Matěj lässt sich die Haare schneiden. Foto: © Tomáš Král

Unten „im Publikum“ stelle ich eine der elementaren journalistischen Fragen: Warum lässt man sich die Haare ausgerechnet in der Klubovna schneiden? Man hat keine Lust, sich einen Termin im Friseursalon zu holen. Man hat wegen der Arbeit wenig Zeit für Freunde und hier kann man beides zusammenbringen. Sie machen ihre Sache hier sehr gut. Und nicht zu vergessen die entspannte Atmosphäre und das Bier.

Es hat sich ausgeschnitten. Johana und Matěj nehmen ihren Bierkrug und setzen sich an den Bühnenrand. Nach einer Weile gehen sie zurück auf die Bühne, Matěj setzt sich auf einen Hocker, Johana legt ihm eine Schürze um den Hals, nimmt eine Schere in die Hand und dann auch ein Haarschneidegerät. „Na endlich“, ertönt es aus der Peergroup, als Matějs Mähne unter Johanas Händen verschwindet. Und wer sollte sich an das Ziel des heutigen Abends halten, wenn nicht der, der es sich ausgedacht hat? Über die Generation Y lässt sich eigentlich nichts mit Sicherheit sagen. Aber ihre Haare, die sehen gut aus.

Klára Bulantová
dankt Johana und Matěj für die Mitarbeit und Tomáš und Bára für die großartigen Fotos.

Übersetzung: Lena Dorn
 
Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
November 2014

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