Leben

Hinter die Kulissen der Menschen blicken

Foto: © Tomáš Princ„Hüte sind meine Leidenschaft. Mein Mann sagte, dass lange Röcke, lange Haare, hohe Absätze und Hüte eine Frau zur Frau machen. Und er wollte, dass ich einen Hut trage. Jetzt bin ich schon lange alleine, aber Hüte trage ich immer noch.“ Foto: © Tomáš Princ
„Hüte sind meine Leidenschaft.“ 25. Oktober 2013, Foto: © Tomáš Princ

Er geht durch Prag und fotografiert Geschichten. Wie dutzend andere auf der ganzen Welt ließ er sich von Brandon Stantons „Humans of New York“ inspirieren. Der fotografiert schon seit vier Jahren New Yorker Passanten. Und Tomáš Princ geht durch die Straßen Prags und fotografiert einfach die, die ihm so begegnen. Über soziale Netzwerke verfolgen auf der Seite „Humans of Prague“ schon über 45.000 User, wie Tomáš die tschechische Hauptstadt und vor allem ihre EinwohnerInnen wahrnimmt. Er selbst lässt sich nur sehr ungern fotografieren – schließlich werde man genau deswegen Fotograf.

Nach welchen Kriterien suchst du dir die Leute aus?

Es müssen immer mehrere Dinge zusammen passen. Ich bin Fotograf, also hängt ziemlich viel vom Licht ab. Eher spreche ich jemanden an, der auf einer gut beleuchteten Bank sitzt. Ich suche mir Einzelpersonen aus, weil man mit ihnen leichter ins Gespräch kommt. Jemand kann mein Interesse wecken durch sein Gesicht, durch gefärbte Haare, oder durch eine Interaktion, die über das Normale hinausgeht – zum Beispiel wenn er Tauben füttert. Ich grüße und frage, ob ich ihn fotografieren darf. Einer sagt nein, ein anderer fragt, warum, dann erkläre ich es. Wenn er zustimmt, mache ich ein Foto und stelle ein paar Fragen.

Schreiben dich Leute an, die jemanden kennen, der auf dem Blog erscheinen sollte?

Sporadisch. Einmal rief mich eine Frau auf dem Handy an, die sich mit alternativer Medizin beschäftigt. Sie erzählte mir, was sie macht und warum das bahnbrechend ist. Ich habe fünf Minuten lang versucht, ihr zu erklären, dass für mich das zufällige Moment sehr wichtig ist und ich keine Bestellungen annehme.

In letzter Zeit stellst du den Leuten meistens Fragen, die die Brüche in ihrem Lebenslauf betreffen. Warum?

Ich habe irgendwie das Gefühl, dass das gut funktioniert. Wenn ich mir diese Geschichten im Nachhinein anschaue, finde ich, dass wir uns wirklich über etwas Wertvolles, Wichtiges unterhalten haben. Manche Fragen haben sich auf diese Art bewährt, manche nicht, von denen habe ich mit der Zeit abgelassen. Ich würde das Spektrum aber gerne noch erweitern.

Kampa, 3. August 2013, Foto: © Tomáš Princ

Wie lange unterhältst du dich mit den Leuten?

Das ist unterschiedlich. Die kürzesten Interaktionen bewegen sich im Rahmen von Sekunden, da geht es um einen witzigen Moment. Kürzlich unterhielt ich mich aber auch lange mit einem Herrn, der in die Schweiz emigriert ist. Er hat mich auf ein Bier eingeladen, wir sprachen über sehr viele Themen und am Ende habe ich seine Geschichte gar nicht veröffentlicht. Sie war zu kompliziert, um sie zu erklären.

Wohin gehst du mit dem Fotoapparat normalerweise?

Im vergangenen Jahr haben sich ein paar Strecken besser bewährt als andere. Das hängt vielleicht damit zusammen, dass ich weiß, wo dort zu welcher Tageszeit Licht ist. Oft gehe ich nach Vinohrady, Žižkov, Karlín, Holešovice, Letná... Weniger häufig nach Smíchov, Vyšehrad oder Nusle – mir scheint, dass es da nicht so gut klappt. Ich sehe das auch als Spaziergang und unterwegs treffe ich eben jemanden. Ein paar Mal ist es mir schon passiert, dass ich zum Beispiel zwei Stunden lang niemanden fotografiert habe. Entweder, weil ich niemanden interessant fand, oder weil mehrere Leute nacheinander abgelehnt haben, ich dann frustriert war und keine Lust mehr hatte, noch jemanden anzusprechen.

Wie fühlst du dich, wenn jemand unmittelbar nach dem Kennenlernen so eine wesentliche Information aus seinem Leben mit dir teilt?

Ich versuche, eine gewisse Distanz zu wahren und darüber analytisch nachdenken zu können. Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Aber auch mich berührt das, wie es jeden anderen berührt. Es erreicht mich oft erst, wenn ich weggehe und weiter spaziere, worüber wir da eigentlich geredet haben. Dann muss ich mich manchmal auf eine Bank setzen und tief durchatmen.

Kann es bei „Humans of Prague“ auch so etwas wie einen negativen Helden geben?

Je nachdem, was man unter einem negativen Helden versteht. Meiner Meinung nach gehören da nicht die Menschen dazu, die einmal jemanden verletzt haben und es bereuen. Solchen weiche ich nicht aus. Auf Humans of Rome war kürzlich ein Gespräch mit einem, der eine Bank ausgeraubt hatte und beschrieb, wie er das gemacht hat. Ich weiß nicht, wie die Leute hier das aufnehmen würden. Andererseits ist jede Geschichte nur ein paar Sätze lang. Ich verstehe das Bedürfnis, eine Haltung dazu einzunehmen, aber es ist auch trügerisch, wenn das jeder in seinem Sinne auslegt.

Aber auch du greifst da doch schon ein.

Das ist klar, dass ich das teilweise schon dadurch bestimme, was ich auswähle, kürze und veröffentliche. Es ist aber gut, sich bewusst zu machen, dass diese Geschichten einfach so sind– Ausschnitte, winzige Einblicke in ein fremdes Leben. Ich versuche immer, sinngemäß das zu schreiben, was mir die Person gesagt hat. Auf Grundlage meiner Beiträge kann man aber niemanden bewerten.

„Ich spiele in einer Band. Wir waren auf einer Europa-Tournee, die wir gerade beendet haben. Ich habe beschlossen noch eine Woche hier zu bleiben. An Prag gefällt mir, dass man hier viel erleben kann, aber es ist nicht so verrückt wie in London oder Paris.“ Foto: © Tomáš Princ
„Ich spiele in einer Band. Wir waren auf einer Europa-Tournee, die wir gerade beendet haben. Ich habe beschlossen noch eine Woche hier zu bleiben.“ 19. August 2013, Foto: © Tomáš Princ

Denkst du, dass sich die Leute selbst stilisieren?

Das kommt noch dazu. Die Geschichten der Menschen gehen durch meinen Filter, aber natürlich auch durch ihren eigenen. Ich höre immer nur ihre Version. Aber das gefällt mir daran, das ist etwas, was mich von Anfang an interessiert hat – wie sie ihre Realität wahrnehmen. Wenn wir uns die Geschichten ganz objektiv ansehen würden, was wir natürlich nicht können, wüssten wir, dass manche Dinge vielleicht ganz anders sind. Es lohnt sich auch, die persönliche Sichtweise einzufangen.

Als ich dich um ein Gespräch gebeten habe, hast du es abgelehnt, dass ich dich beim Fotografieren begleite. Warum?

Interessante Beiträge entstehen in einer Situation, in der es gelingt, Vertrauen zwischen mir und der befragten Person herzustellen. Und das lässt sich meines Erachtens nur im Dialog erreichen. Ich habe das Konzept des Blogs Humans of New York in einem Augenblick übernommen, als es schon in erster Linie um das Einfangen persönlicher Geschichten der Menschen ging. Der New Yorker Blog hat sich aber sehr verändert, zuvor hatte der Blogger vor allem die Gesichter der New Yorker aufgenommen, ihre Mannigfaltigkeit.

Wie würde „Humans of Prague“ aussehen, wenn ein größerer Schwerpunkt auf dem Esprit der Stadt läge?

Ich glaube schon, dass man auch Prag dabei erkennen kann. Ich habe wohl keine Aufnahme von ganz wichtigen Denkmälern, aber das spielt bei Prag auch nicht so eine Rolle. Fotos von bekannten Orten tauchen eher in Humans of...-Projekten von kleineren Städten auf, das vermittelt eine gemeinsame Identität. Ich sehe das aber nicht so, dass ich den repräsentativen Idealbürger von Prag einfangen wollen würde. Obwohl es so heißt, was zugegebenermaßen die Inspiration durch das Projekt Humans of New York bezeichnet, sind das mehr oder weniger Leute, die mir so begegnen. Wenn es „Leute, die mir so begegnen“ heißen würde, würde das niemand liken.

Ich meinte eher, ob Prag eine Art Seele hat. New York hat das Image eines melting pots oder einer salad bowl – wo sich die Kulturen vermischen und eine ganz besondere Mannigfaltigkeit entsteht. Ich weiß nicht, was passieren würde, wenn du zum Beispiel zu Obdachlosen gehen würdest oder zu Pragern, die sich nicht so freundlich verhalten.

Das ist wohl eine Frage an jemand anderen. Ich habe da nicht so eine Distanz. Mein Prag der Humans of erscheint vermutlich eher als gedankenversunken durch die Menschen, die sich mit ziemlich traurigen Dingen befassen müssen, aber es kommt vielleicht auch zum Ausdruck, dass sie Kraft haben, das zu überwinden. Leute, die unfreundlich schauen, sagen meistens direkt nein. Obdachlose spreche ich manchmal an, aber da stoße ich schnell an meine selbst gesetzten Grenzen – ich fotografiere nie Leute, die gerade Alkohol trinken oder aussehen, als hätten sie gerade getrunken. Ich will keine Menschen veröffentlichen, die unter Alkoholeinfluss sind. Auch deshalb, weil ich das Risiko eingehen würde, dass sie mir etwas Persönliches sagen und es am nächsten Morgen bereuen.

Das Gespräch führte Klára Bulantová
Übersetzung: Lena Dorn
 
Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
November 2014
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