Stadtplan der Angst
Wo sich die Menschen in Prag am meisten fürchten
„Wenn man sich einmal die Polizei-Statistiken anschaut und mit Menschen redet, die dort wohnen, dann stellt man fest, dass Žižkov gar nicht so ein gefährliches Pflaster ist wie gerne behauptet wird“, widerlegt Jana Jíchová ein beliebtes Stereotyp. Jíchová ist Doktorandin der Sozialgeographie und Regionalentwicklung an der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Karlsuniversität. Unter der Leitung von Dr. Jana Temelová erstellt sie auf der Grundlage von wissenschaftlicher Forschung sogenannte Angst-Karten oder Angst-Stadtpläne, mit denen man feststellen kann, wie sehr die Menschen in bestimmten Prager Gegenden um ihre Sicherheit fürchten.
Wo haben die Menschen am meisten Angst?
Das Angstgefühl ist eine schwer messbare Größe. Es ist nicht nur abhängig davon, wie viele Straftaten, an einem Ort tatsächlich begangen werden. Die Polizeistatistiken, die die Delikte numerisch erfassen, entsprechen nicht immer dem subjektiven Gefühl, wie bedroht sich der Einzelne an einem bestimmten Ort fühlt.
Eine der grundlegenden Forschungsrichtungen, mit der sich die sogenannte Verbrechens-Geografie befasst, ist die Erfassung des individuellen Sicherheitsgefühls an ausgesuchten Orten. Obwohl die Grundlagen dieses Fachs bereits im 19. Jahrhundert durch die sogenannten europäischen kartografischen Kriminologen gelegt wurden, erlebte es insbesondere in den USA der 1920er Jahre im Zusammenhang mit der sogenannten Chicago-Schule einen ersten großen Boom. Eine zweite Welle erfuhr Interesse an der kartografischen Erfassung und Darstellung von Kriminalität in den sechziger Jahren. Tschechische Wissenschaftler widmen sich dieser Disziplin allerdings erst seit Kurzem. Unter den ersten waren Forscher der Prager Karlsuniversität.
In den vergangenen Jahren zog das Fach auch Jana Jíchová in seinen Bann. Sie widmet sich sowohl der räumlichen Verbreitung von Straftaten als auch der Erforschung des Bedrohungsgefühls durch Verbrechen. Im Rahmen ihrer Diplomarbeit hat sie sich mit zwei Orten beschäftigt; den Prager Stadtteilen Žižkov und dem daran östlich angrenzenden Jarov. Beide Viertel haben den Ruf, gefährlich zu sein.
„Wenn man sich die Polizeistatistiken anschaut, stellt man fest, dass diese Gegenden gar nicht so gefährlich sind. In meiner Arbeit habe ich mich deshalb vor allem auf die Frage konzentriert, wie sich die Bewohner dieser Stadtviertel fühlen, wie sehr sie sich vor Verbrechen fürchten. Die Ergebnisse haben gezeigt, dass sich die dortigen Anwohner nicht mehr um ihre Sicherheit fürchten als in anderen Gegenden. Als wir später die Lage in anderen Stadtteilen untersuchten, stellten wir fest, dass sich die Menschen beispielsweise in Smíchov oder Karlín viel weniger sicher fühlen als in Žižkov“, so Jana Jíchová, die derzeit an ihrer Dissertation über die Verbrechenswahrnehmung in den Prager Wohnvierteln arbeitet.
Neben Smíchov und Karlín fühlen sich auch die Bewohner des Stadtzentrums stärker bedroht. Das Forschungsteam des Urban- und Regionallabors an der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Karlsuniversität stellte hingegen für den sechsten Prager Stadtbezirk sehr positive Werte fest. „Die Villenviertel schneiden bei solchen Untersuchungen im Allgemeinen am besten ab. Das hat damit zu tun, dass sich die Menschen dort mehr untereinander kennen“, erklärt die Doktorandin.
Jana Jíchová widmet sich dem so genannten „Crime Mapping“ bereits seit ihrem Magisterstudium. Die Ergebnisse des Forschungsteams haben ergeben, dass das Bedrohungsgefühl nicht nur durch tatsächlich höhere Kriminalität in einer bestimmten Gegend hervorgerufen wird. Menschen fürchten sich mitunter auch ohne realen Grund. „In Wohnsiedlungen werden beispielsweise selten frequentierte, verwahrloste oder schlecht beleuchtete Orte negativ wahrgenommen, diese werden dann als gefährlicher empfunden. Im Stadtzentrum reagiert man wiederum sensibel auf Personen, die als Risikofaktor gelten, beispielsweise Drogenkonsumenten und paradoxerweise auch Obdachlose, die ja selbst oft Gefahren ausgesetzt sind“, erläutert Jana Jíchová.
Die menschliche Angst zu messen ist nicht leicht. Deshalb hat sich seit den sechziger Jahren die Methodik der Forschung häufig verändert. Zur Ermittlung von Bedrohungs- und Angstgefühlen werden meistens Umfragen durchgeführt. „In den Fragebögen möchten wir wissen, wie sicher sich die Leute an einem Ort tagsüber und in der Nacht fühlen. Kürzlich haben wir in den Vorort-Siedlungen [den so genannten Satellitenstädten, Anm. d. Red.] geforscht. Dort haben wir nicht nur das Bedrohungsgefühl durch Straftaten erforscht, sondern auch andere Erscheinungen mit einbezogen, die das Sicherheitsgefühl deutlich beeinflussen können“, erläutert die Doktorandin ihre Arbeit.
Das Forschungsteam des Urban- und Regionallabors konzentriert sich aktuell vor allem auf Prag. Jana Jíchová würde aber auch gerne außerhalb der Hauptstadt forschen. „Im Moment konzentriere ich mich auf die räumlich Verteilung der Kriminalität in Tschechien. In Zukunft würde ich auch gerne andere Methoden ausprobieren, um das Gefühl der Angst vor Kriminalität zu erfassen und dies vielleicht auch auf andere Kommunen anwenden. Interessant fände ich auch eine Untersuchung von Plattenbausiedlungen. Ich habe viele Pläne“, so Doktorandin Jana Jíchová über ihre kommenden Forschungen.
Man sollte ihre Forschungsergebnisse sowie die des gesamten Teams des Urban- und Regionallabors auf jeden Fall zur Kenntnis nehmen. Sie stellen eine wichtige Informationsquelle für Ministerien, Städte oder auch die Polizei dar.
Mehr über „Angstkarten“ erfährt man in der Publikation Sociální proměny pražských čtvrtí (Soziale Veränderungen in den Prager Vierteln), die im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde. Die Herausgeber sind die Leiter des Urban- und Regionallabors, Dr. Martin Ouředníček und Dr. Jana Temelová)