Zwischen Lachen und Weinen – „Jack“ von Edward Berger

Copyright: Jens Harant„Jack“ | © Jens Harant
„Jack“ | © Jens Harant

Eine Mutter trifft ständig die falschen Entscheidungen, während ihr kleiner Sohn die richtigen Entscheidungen trifft – oder es zumindest versucht: Berlinale-Bloggerin Jutta Brendemühl über den Film „Jack“ von Edward Berger.

„Ich habe draußen mit meinem Sohn gespielt, als ein Junge mit einem Schulranzen vorbeilief. ‚Hallo Jack!‘, rief mein Sohn und erklärte mir, Jack sei in seiner Klasse und laufe gerade vom Haus seiner Mutter zum Kinderheim, in dem er wohne. Ich schaute mir den Jungen auf der Straße ein wenig genauer an. Er machte gar nicht den Eindruck eines armen, verlassenen Kindes.“ Diese kleine Begebenheit, so Regisseur Edward Berger zum Tagesspiegel, brachte ihn auf den Film Jack. In dem Film muss sich der 10-Jährige fast alleine um seinen 5-jährigen Bruder Manuel kümmern. Die Jungdarsteller spielen erstaunlich intensiv und scheinen ihre Rollen intuitiv verinnerlicht zu haben.

Sie streunen nachts durch die Großstadt, um ihre jugendliche Mutter zu suchen, die mal wieder eine neue Affäre hat. Die Geschichte spielt in Berlin, was aber für die Handlung nicht so wichtig ist. Die Frau empfindet zwar durchaus Zuneigung für ihre Kinder, trotzdem ist sie einfach keine gute Mutter: Sie weiß nicht, wie sie sich verhalten muss, welchen Gefahren die Kinder ausgesetzt sind, wenn sie sie allein lässt. Sie ist egoistisch, hedonistisch, kindisch, aber kein Ungetüm. Mutter und Kinder leben in Parallelwelten. Die kurzen Momente von Familienalltag enden immer rasch, weil die Mutter wieder einmal raus- oder wegrennt. Es gibt keine Entschuldigung für das, was im Folgenden passiert, und es wird auch gar nicht erst nach einer gesucht. Die Mutter trifft ständig die falschen Entscheidungen (und weiß das), während Jack die richtigen Entscheidungen trifft und damit seinem Alter weit voraus ist. Die Rollenumkehrung ist fatal: Die zweifache Mutter müsste eigentlich das Kommando haben, ist aber unfähig dazu. Also muss Jack ihre Rolle übernehmen und bürdet sich die Last der Verantwortung auf, frei nach dem Motto: So ist das Leben eben, da muss man wohl durch und das Beste daraus machen. Das versucht er wenigstens, bis er im wahrsten Sinne des Wortes Türen einrennt, um bei seiner Mutter zu sein.

Nachdem sie drei Tage lang weg war, schreit die Mutter: „Wo wart ihr bloß? Ich habe mir solche Sorgen gemacht!“ Ein anderer ebenfalls noch weit vom Erwachsensein Entfernter fragt die Kinder „Was sollen wir jetzt machen?“ Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll. Das heillose Durcheinander enttäuscht Jack immer wieder. Trotzdem strahlt der Junge Hoffnung und Vertrauen aus, will sein Recht, geliebt und umsorgt zu werden, einfach einfordern.

Zum Glück inszeniert Berger seine Geschichte nicht in einem typisch westlichen sozialen Brennpunkt oder inmitten von asiatischen Straßenkindern. Seine Botschaft ist vielmehr, dass solche Familien überall unter uns sind, ohne dass wir sie wahrnehmen, geschweige denn eingreifen. „Es ist ja nicht so schlimm, oder?“ fragt seine Mutter ausgerechnet, als sie es wieder einmal nicht schafft, Jack abzuholen und dieser in einem Heim untergebracht wird. Dabei gibt’s nichts Schlimmeres.

Der ansonsten im TV beheimatete Regisseur ist offenbar mehr vom amerikanischen Independent-Film beeinflusst als vom deutschen Arthouse. Die Handkamera folgt Jack auf Schritt und Tritt, alles bleibt in Echtzeit ohne Schnitte. Stilistisch gesehen lugt hier und da die Berliner Schule hervor, allerdings wird hier die soziale Wirklichkeit besonders drastisch gezeigt, und manche Szenen sind wirklich verstörend realistisch.

Berger zeigt uns nicht nur ein selbständiges und unabhängiges Kind, sondern wir sehen klar und deutlich, was Vernachlässigung bedeutet. Allerdings ist das Ende nicht ganz stimmig; die Figuren erscheinen hier doch ein wenig unglaubwürdig – vielleicht ein Resultat von Bergers TV-Hintergrund. Dennoch ist Jack, ähnlich wie auch Hüter meines Bruders, ein weiterer nachdenklich stimmender Film über die intensive Beziehung zwischen zwei Brüdern. Er wird auch nicht der letzte sein, der aus der Perspektive eines Kindes erzählt wird: Auch in Kreuzweg ist dies der Fall.

Jutta Brendemühl
bloggt für GermanFilm@Canada von der Berlinale.

Übersetzung aus dem Englischen von Sabine Bode
Copyright: Goethe-Institut e. V.
Februar 2014

    Jutta Brendemühl ist Programmkuratorin des Goethe-Instituts Toronto und Bloggerin bei GermanFilm@Canada. Die studierte Anglistin konnte ihre Leidenschaft zum Beruf machen: Sie organisiert Kunst- und Kulturprogramme quer durch alle Genres und mit globaler Ausrichtung. In den vergangenen 15 Jahren hat sie bereits mit Größen wie Bernardo Bertolucci, Robert Rauschenberg, Wim Wenders oder Pina Bausch zusammengearbeitet.

    Twitter @JuttaBrendemuhl