Mit Geschichten gegen Vorurteile

© Nakladatelství Lipnik

Dokucomic O přibjehi erzählt aus dem Leben dreier Roma

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Keva ist die jüngste der drei Protagonisten


Arbeitscheu, laut und schmutzig: Solche Vorurteile gegenüber den Roma sind in Tschechien leider immer noch verbreitet. Der dreiteilige Dokucomic O přibjehi setzt diesem Stereotyp die spannenden Erfahrungen von Keva, Albina und Ferko entgegen – drei Roma, deren Leben unterschiedlicher nicht sein könnten.

Das Autorenteam – die Anthropologin Markéta Hajská, der Comicszeichner Vojtěch Mašek und die Romaexpertin Máša Bořkovcová – führte über Monate hinweg Interviews mit den drei Protagonisten. Abgezeichnete Photos, alte Privataufnahmen und nachgestellte Szenen, die für das Buch neu fotografiert wurden, illustrieren deren Erfahrungen. Die Autoren wollten so die volle Bandbreite des Lebens als Roma in Tschechien und der Slowakei einfangen. „Wir haben Keva und Ferko im Rahmen unserer Arbeit im Terrain kennen gelernt“, erinnert sich Markéta Hajská. „Und ihre Geschichten ließen uns nicht los. So vieles geht verloren, wenn man immer nur Jahresberichte für nichtstaatliche Organisationen schreibt. Uns ging es darum, die menschliche Dimension zu betonen und die Lebenserfahrung unserer Comicshelden einem größeren Publikum nahe zu bringen.“

Verständigung dringend notwendig

Die politische Lage in Tschechien bezeugt, dass solche Beiträge zur Verständigung dringend notwendig sind: Erst im August eskalierten Spannungen zwischen neu hinzugezogenen Roma und der alteingesessenen Bevölkerung in Nordböhmens Schlucknauer Zipfel so heftig, dass die Regierung die Bereitschaftspolizei in die Region entsendete. Wochenlang demonstrierten hunderte Einheimische gemeinsam mit Rechtsradikalen aus der ganzen Republik gegen die örtlichen Roma, grölten Parolen wie „Romové do práce!“ – also „Roma in die Arbeit!“.

Dieses Feindbild wollen die drei Autoren mit ihren Comics korrigieren. „Natürlich bin ich nicht so naiv, zu glauben, Comics könnten die Welt verändern“, sagt Markéta Hajská. „Aber es kann das gegenseitige Verständnis durchaus fördern, einen Einblick in die Welt dieser Minderheit zu gewinnen. Wir möchten zeigen, dass diese Bevölkerungsgruppe genauso heterogen ist wie alle anderen auch.“

Der erste Teil der Trilogie beschäftigt sich mit Albinas Leben. Sie wurde in den 60er Jahren im Osten der Slowakei geboren; erfuhr Armut, Familienkonflikte und später auch häusliche Gewalt. Mit dem Sozialarbeiter Karel wagte sie schließlich einen Neuanfang.

Im zweiten Teil erzählt Ferko aus seinem chaotischen Lebenslauf, von seiner Zeit in Schweden in den 80er Jahren und diversen Heldentaten. Mit 14 Jahren hat er einen ertrinkenden Jungen gerettet, behauptet er. Überhaupt schweifen seine Geschichten oftmals in Richtung Märchenonkel ab – sind deswegen aber nicht weniger unterhaltsam.

Das Leben der 20-jährigen Keva, von dem der dritte Teil des Buchs handelt, prägen häufige Umzüge, Diskriminierung und rechtsradikale Gewalt. Ihre Geschichte verdeutlicht wohl am ehesten, wie oft Vorurteile und körperliche Angriffe auch heute noch das Leben vieler tschechischer Roma zerstören. „Manche Reaktionen auf O příbjehi haben mich schon schockiert“, sagt Markéta Hajská. „Vor allem, dass eingefleischte Rassisten in dem Buch ihre Vorurteile bestätigt sahen. Bei manchen sitzt der Hass einfach unglaublich tief.“

Comics für Otto Normalbürger

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Ferko auf dem Foto und im Comic


Der bekannte Prager Cartoonist Vojtěch Mašek, den die beiden Roma-Expertinnen für ihr Projekt gewannen, arbeitet hauptsächlich mit Photovorlagen und Collagen. Ihn reizte besonders, dass das Projekt auf realen Ereignissen basiert. „Es war großartig, die Erfahrungen von echten Menschen künstlerisch umzusetzen“, erinnert er sich. „Unsere Comics zeigen, dass die Roma eben nicht eine vollkommen einheitliche Gruppe sind. Ich hoffe, das kann den Dialog zwischen den Roma und der tschechischen Allgemeinbevölkerung öffnen.“

Als O příbjehi 2010 erschien, berichteten die tschechischen Medien ausgiebig über die ehrgeizige, 368 Seiten dicke Trilogie, die vom Europäischen Kulturfonds gefördert worden war. „Aber uns hat vor allem gefreut, dass die Comics nicht nur Menschen gelesen haben, die sich ohnehin für Roma oder Menschenrechte interessieren“, sagt Hajská. „Es war uns wichtig, die breite Öffentlichkeit, den Otto Normalbürger, zu erreichen.“

Es wird wohl auch geholfen haben, dass die Autoren zum hierzulande bislang wenig bekannten Format des Dokucomics griffen. Die unverfälschten Lebensgeschichten werden so auf eine untypische und frische Art erzählt. Das weckte auch das Interesse des Verlags Editions çà et là, der die Bände im Sommer 2011 in französischer Übersetzung herausbrachte. Konkrete Pläne das Werk auch ins Deutsche zu übersetzen gibt es bislang leider noch nicht.

Sarah Borufka 

Copyright: Goethe-Institut Praha 
prosinec 2011

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