Zeitung ohne Zeitung

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Die „Berliner Gazette“

Seit 1999 gibt es das Online-Magazin „Berliner Gazette“. Ursprünglich als E-Mail-Newsletter gestartet, versteht sie sich heute als „vernetzte Zeitung“.

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Das Team der Berliner Gazette, Foto: © Berliner Gazette e.V.

Das Büro in einem Hinterhof im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg ist gerade groß genug für einen Redaktionstisch, ein paar Computerarbeitsplätze, Bücherregale und Sitzgelegenheiten. Hier, wie auch an den häuslichen Schreibtischen seiner derzeit sieben Redaktionsmitglieder und drei Herausgeber, entsteht das Online-Magazin Berliner Gazette. Mit seinen 13 Jahren dürfte es zu den ältesten noch aktiven redaktionellen Angeboten im deutschsprachigen Internet zählen, die als reines Online-Medium begannen.

Den Kulturbetrieb aufmischen

Krystian Woznicki ist Gründer, langjähriger Chefredakteur und aktuell Mitherausgeber des Internet-Feuilletons Berliner Gazette. Er erinnert sich, dass die Gazette, 1999 von ihm zuerst als E-Mail-Newsletter gestartet, in einem nicht nur politisch, historisch und sozial, sondern auch medial im Umbruch befindlichen Berlin zunächst für Irritationen sorgte. Der 1972 in Polen geborene Woznicki zog Ende der 1990er-Jahre in die neue deutsche Hauptstadt. Er kam aus dem hochtechnologisierten Tokio, wo er unter anderem für die deutsche Musikzeitschrift Spex gearbeitet hatte. In Berlin fand er das vor, was man hierzulande damals „Netzkultur“ nannte: Berliner Community-Netzwerke und Mailinglisten wie die Internationale Stadt, das PrenzlNet oder The Thing sorgen für das Anwachsen einer umtriebig vernetzten Szene. Ein „lauter“ journalistischer Newsletter mit „Boulevardcharakter“, der lokale und internationale Themen gleichermaßen aufgreift, fehlte jedoch.

Inspiriert durch die diskurshafte Form der Documenta X (1997) und durch das Netztagebuch Abfall für Alle (1998–1999) des Schriftstellers Rainald Goetz startete Woznicki einen wöchentlichen deutschsprachigen Newsletter mit teils glossenhaftem, teils reportageähnlichem Inhalt samt Veranstaltungshinweisen. Die ersten 52 Ausgaben schrieb er selbst, bis er die Gazette auch für andere Autoren öffnete. Als „Initiative, die den Kulturbetrieb mit den publizistischen Mitteln des Internets aufmischen wollte“, beschreibt Woznicki sein damaliges Vorhaben in dem zum zehnjährigen Bestehen der Gazette herausgegebenen Buch Vernetzt. Hier sind ausgewählte Gazette-Texte aus dieser Zeit versammelt, von einer Glosse über die Namen von Berliner Friseurgeschäften bis zu einem philosophischen Text über Wasser als Prinzip des Lebens.

Zwischen publizistischer Freiheit und ökonomischer Notwendigkeit

Modell Foto (Ausschnitt): © Colourbox.de
Modell Foto (Ausschnitt): © Colourbox.de

Dass das zumeist ungefragt zugestellte, bis heute per E-Mail abonnierbare Internet–Feuilleton der Berliner Gazette in einer Zeit mit vergleichsweise wenig E-Mail-Verkehr bei seinen Lesern für Unruhe sorgte, war also durchaus Programm und möglicherweise ein Garant dafür, dass der Newsletter, den Woznicki die ersten zehn Jahre Woche für Woche persönlich verschickte, publizistisch überlebte. Hierfür sorgte jedoch vor allem auch der Schritt, im Jahr 2002 als Internet-Magazin mit dem laut Eigenaussage ersten redaktionell betreuten Blog Deutschlands online zu gehen, sprich, nun auch publizistisch mit einer festen Website agieren zu können. Heute definiert sich die Gazette als „vernetzte Zeitung“, der Newsletter ist mittlerweile nur noch eine Auskopplung der Website. Hier finden sich hunderte redaktionell aufbereitete Feuilleton-Texte, Videos und Audiobeiträge aus den vergangenen Jahren, meist zu einem jährlich festgemachten Motto, momentan: Oikonomia, die Ökonomie.

Warum dieses publizistische Modell über so lange Zeit auf rein ehrenamtlicher Basis, „ohne den finanziellen Rückhalt eines Verlagshauses“, funktionieren kann, wird einerseits mit der Freiheit, experimentieren zu können, begründet. Gleichzeitig dient das publizistische Produkt Berliner Gazette auch als Vehikel, um neben der Redaktionsarbeit andere Projekte über Förderungen heranzuziehen, die das Überleben erst sichern und dem Magazin so auch neue Inhalte und Autoren zuführen.

Der Verein

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Die Gründung des „Berliner Gazette e. V.“ im Jahr 2005 war der erste Schritt, um einerseits Fundraising betreiben zu können, andererseits mit dem Team als Anbieter von Workshops im Sinne politischer und kultureller Bildung aktiv zu werden oder Seminare, Symposien und Veranstaltungsreihen zu organisieren, die im besten Fall auch eine eigene Buchveröffentlichung nach sich ziehen. Zum Beispiel McDeutsch, 2006 gestartet und von der Kulturstiftung des Bundes gefördert. Kulturschaffende aus mehr als 20 Ländern reflektierten damals online und bei Veranstaltungen über die deutsche Sprache als „nationale Identitätsprothese“ und über Multilinguismus als Phänomen der Globalisierung; ein Projekt, mit dem die Berliner Gazette in vielen Ländern auf verschiedenen Kontinenten aktiv wurde. Das jüngste Projekt ist das BQV, das „Büro für Qualifikation und Vermögen“. Im Mai und Juni 2012 einmal wöchentlich in Berlin organisiert und vom Hauptstadtkulturfonds unterstützt, wurden dort Fragen der Existenzsicherung von Kreativen diskutiert.

Dass die Gazette sich zunehmend vor allem an ein jüngeres Publikum richtet, möchte Woznicki nicht bestätigen. „Wir sprechen zu allen“, bekräftigt er und verweist auf die breite Themenpalette und darauf, dass der online zu kommentierende „Umbau der Offlinewelt“ ein Thema mit allgemeinem Anspruch sei. Im Sommer 2012 wurde die Berliner Gazette im Wettbewerb „365 Orte im Land der Ideen“ als „Ausgewählter Ort 2012“ ausgezeichnet.

Martin Conrads
lebt als freier Autor in Berlin und unterrichtet Visuelle Kommunikation an der dortigen Universität der Künste.

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Juli 2012
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