Das Unerprobte ausprobieren

Pik-Art

Pikart aus Úštěk – aus dem Leben eines Laientheaters

Eines der eigenen Stücke: Die Frühgeburt. © Pik-Art

Man schrieb das Jahr 1996 – das kulturelle Angebot im nordböhmischen Städtchen Úštěk war damals minimal. Die Idee, ein Laientheater zu gründen, entstand an einem nasskalten Novembertag beim Bier in einer kleinen Kneipe des Ortes. Es blieb allerdings nicht nur beim Theater. Im Laufe der vergangenen 16 Jahre sind weitere Aktivitäten hinzugekommen. Mitbegründerin Gábina Nogová erzählt die Geschichte ihres kreativen Vereins Pik-Art.

Das Laientheater hatte in Úštěk bereits eine gewisse Tradition. In den 80er Jahren spielte hier unter anderem das Kinderensemble Chmeláček. Als wir dann unser Laientheater Pikart gründeten, erinnerten sich viele Alteingesessene an ihre jugendlichen Theateraktivitäten und hatten sofort Lust wieder mitzumachen. Der Name unseres Ensembles entstand zeitgleich zur Gründung des Theaters und geht auf den Pikart-Turm zurück, eine vielbesuchte Sehenswürdigkeit in Úštěk. Leider ist ein Jahr nach der Gründung Dana Kučerová, eine der Mitbegründerin der Schauspieltruppe, tragisch ums Leben gekommen. Aber trotz dieses Rückschlags ging das Theater fortan seinen Weg.

Die Schauspieler trafen sich seitdem einmal wöchentlich, wo immer es nur ging: im Kirchengebäude der Böhmischen Brüder, im Jugendclub, im Kulturzentrum, im Kino oder in der Kneipe. Unsere erste Aufführung war Hans Christian Andersens Märchen Der Schweinehirt; Regie führte die Rentnerin Blažena Hofmanová. Zu der Vorstellung kamen über 200 Zuschauer. Kulissen, Kostüme, Plakate – alles wurde zu Hause selbst gemacht. Unterstützung kam von unseren Nachbarn, die uns ihre alten Kleider, Hüte und Schuhe überließen, was uns sehr gerührt hat.

Frauen in Männerrollen

Im Schnitt bilden unsere Truppe rund zehn Schauspielerinnen und Schauspieler. Die meiste Zeit waren wir Frauen deutlich in der Überzahl, so dass wir oft in männliche Rollen spielen mussten. Bei einigen Aufführungen, insbesondere im Jára-Cimrman-Stück Záskok kam es deshalb zu sehr komischen Situationen – ich selbst spielte die Rolle des Vavroch, der in der ursprünglichen Fassung ein Mann mit Sprachfehler ist. Nach der letzten Vorstellung dauerte es noch einen Monat, bis ich aufhörte, mit tiefer Stimme zu sprechen.

Gerne arbeiteten wir auch mit anderen Ensembles zusammen. In einigen Märchenstücken spielten auch Kinder aus dem ortsansässigen Tourismus-Verein TOM Bobři mit. Mit unseren Aufführungen traten wir nicht nur in „normalen“ Theatern oder Kulturzentren in ganz Tschechien, sondern auch auf Festivals und verschiedenen Feiern und Festen auf.

Pik-Art

„Die meiste Zeit waren wir Frauen deutlich in der Überzahl, so dass wir oft in männliche Rollen spielen mussten." (Das Stück „Záskok") © Pik-Art

Als Regisseure fungierten bei uns mehrere Personen, der beliebteste war der Maler Jiří Ryvola. Auch ich selbst habe einige Jahre Regie geführt, und das obwohl ich davor zunächst etwas Bammel hatte und mich nur deshalb traute, damit überhaupt etwas gespielt wird. Im Laufe der Zeit fand ich jedoch Gefallen an der Regie, genauso wie am Schreiben von sozusagen „maßgeschneiderten“ Theaterdrehbüchern.

Als wir 2004 unseren Status änderten und nunmehr als eingetragener Verein namens PIK-ART firmierten, begannen wir auch stärker „multimedial“ zu arbeiten. Dadurch erweiterten wir unser Spektrum manchmal auch um Aktionen ohne Theaterhintergrund. Jedes Jahr veranstalten wir eine Nikolausfeier, die unter freiem Himmel stattfindet, und zu der Kinder und Eltern nicht nur aus der näheren Umgebung, sondern aus nahezu ganz Nordböhmen kommen. Regelmäßig organisieren wir die Königsprozession im Rahmen des Weinlesefestes in Velké Žernoseky, treten bei Bierfesten auf und machen sogar bei Tanzshows mit, die allerdings immer noch Theatercharakter haben. Einigen von uns ist es sogar gelungen, ihr Talent in Filmen und Werbespots unter Beweis zu stellen – stellvertretend nenne ich hier die Streifen Durch diese Nacht sehe ich keinen einzigen Stern, Franz Kafka, Lidice und Chips.

Vielfalt über alles

Das ist aber nicht alles. Im Rahmen der Fimfarum-Kulturabende, die im ehemaligen Pfarrhaus von Úštěk stattfinden, bieten wir kreativen Menschen aller Sparten einen Rahmen, in dem sie sich präsentieren dürfen. Hier können sowohl angehende als auch schon bekannte Künstler ihre Werke ausstellen, Abenteuerreisende Vorträge halten, Sammler ihre Sammlungen präsentieren und natürlich Musiker aller Genres die Ohren der Anwesenden erfreuen. Nicht zuletzt denken wir auch an die Bedürftigen. Mit unserem Benefizfestival Hradní hrátky („Burgspiele“) , bei dem Theater und Musiker aus ganz Tschechien auftreten, sammeln wir Geld für Menschen und Tiere in Not.

Pik-Art

„Die Stücke suchen wir unter dem Gesichtspunkt 'unerprobtes Genre' aus." (Das Stück „Příběhy obyčejného šílenství"). © Pik-Art

Die Atmosphäre innerhalb unserer Truppe war immer freundschaftlich. Manchmal herrschte zwar auch Anarchie, aber wenn es darauf ankommt, reißen sich alle zusammen. Neue Darsteller sind stets willkommen. Jeder Neuankömmling sagt natürlich als erstes, dass er furchtbares Lampenfieber hat und lieber als Kulissenschieber helfen würde. Wir beruhigen ihn dann, denn Lampenfieber haben wir alle und immer. Die Zusammensetzung unseres Ensembles hat sich im Laufe der Jahre natürlich mehrmals verändert – jemand ist gestorben, manch einer ist umgezogen, die eine oder andere bekam ein Kind und kehrte später zum Theater zurück…

Bisher haben wir 19 Theaterstücke einstudiert. Einige haben wir auch selbst geschrieben: Nedonešenec (Die Frühgeburt), Co se děje v trávě (Was passiert im Gras) und gerade aktuell Superman přijede ve 22:37 (Superman kommt um 22:37) . Die Stücke suchen wir unter dem Gesichtspunkt „unerprobtes Genre“ aus. Neue Dinge zu probieren macht uns den größten Spaß, weil wir dadurch neue Erlebnisse und neue Erfahrungen sammeln. Und das hält uns nun schon ganze 16 Jahre zusammen und über Wasser.

Gabriela Nogová
ist eine von zwei Mitbegründerinnen des Laientheaters Pikart, einige Jahre führte sie Regie.

Übersetzung: Ivan Dramlitsch

Copyright: Goethe-Institut Prag
September 2012
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Laientheater

Laientheater haben in Tschechien eine lange Tradition. In einer ganzen Reihe tschechischer Städte und Dörfer gibt es solche kleinen Ensembles, die tschechische, ausländische oder sogar eigene Theaterstücke spielen. Damit leisten sie einen bedeutenden Beitrag zur Kulturvielfalt, und das nicht nur an Orten, wo es kaum ein Kulturangebot gibt. Diese Theaterform wendet sich an jeden, der Lust hat, auf den Brettern, die die Welt bedeuten, zu spielen. Deshalb handelt es sich ausnahmslos um Laiendarsteller, die neben diesem Hobby einer geregelten Arbeit nachgehen. Den größten Boom des Laientheaters erlebte Böhmen im Rahmen der „Nationalen Wiedergeburt“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Während der kommunistischen Zeit (1948–1989) gab es in der Tschechoslowakei nur einige wenige Laientheatergruppen, die zudem der staatlichen Zensur unterlagen. Einen neuen Aufschwung gab es nach dem November 1989.

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