Sebastian 23

Foto: © Christoph Neumann

„Die Leute merken sich nur die Zahl“

Sebastian 23, Foto: © Christoph NeumannSeit rund 20 Jahren haben Poetry Slams die Bühnen im deutschsprachigen Raum erobert. Sebastian 23 gilt heute als einer der bekanntesten und erfolgreichsten Poetry Slammer Deutschlands. Im Interview spricht er über die Demokratie der Kunst, die Bühnen des Ruhrgebiets und den Wert der Philosophie.

Du warst 23 Jahre alt, als ein Freund dich zum ersten Mal zu einem Poetry Slam schleppte. Inzwischen giltst du als einer der bekanntesten Slammer Deutschlands. Was fasziniert dich an diesem Veranstaltungsformat?

Beim Poetry Slam kann jeder seine selbst geschriebenen Texte auf der Bühne vortragen. Am Ende bestimmt das Publikum den Gewinner des Abends. Als Poetry Slammer schreibt man also nicht nur Texte, sondern man gestaltet sie auf der Bühne. Man steht vor 200 bis 300 Leuten und ist Regisseur, Schauspieler und Drehbuchautor in einer Person.

Wenn das Publikum die Jury ist, kann man Poetry Slam dann als eine demokratische Kunstform bezeichnen?

Das Publikum wird beim Poetry Slam beteiligt und wählt auch immer den Favoriten des Abends. Das ist aber eher eine spielerische Angelegenheit und höchstens eine Aufwärmübung für richtige demokratische Entscheidungen. Doch die Freiheit der Rede kommt beim Poetry Slam deutlich zum Vorschein: Jeder darf auf die Bühne und äußern, was er denkt. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass das in einem Land wie Deutschland nach einer großen Selbstverständlichkeit klingt. Das ist nicht überall so. Ich kenne zum Beispiel einen Poetry Slammer aus Simbabwe, der mehrmals im Gefängnis saß, weil er sich bei seinen Auftritten zu politischen Themen geäußert hat. In Poetry Slam-Texten kann es aber nicht nur um Politik gehen, sondern zum Beispiel auch um einen Schmetterling, die Liebe oder den demographischen Wandel.

Für deine Auftritte bist du auf Bühnen im gesamten deutschsprachigen Raum unterwegs. Aber du kommst aus dem Ruhrgebiet und bist nach deinem Studium in Freiburg auch wieder hierher zurückgekehrt. Gibt es im Ruhrgebiet eine eigene Poetry Slam-Szene? Und was gefällt dir daran so gut, dass du nicht nach Hamburg, München oder Berlin umziehst?

In fast jeder Stadt des Ruhrgebiets gibt es mittlerweile eigene Poetry Slams. In den größeren Städten wie Essen, Bochum und Dortmund finden sogar mehrere Poetry Slams pro Monat statt. Es ist eine große und sehr lebendige Szene. Was mir hier gut gefällt: Ich habe das Gefühl, dass ich an dem spannenden Kulturbetrieb durchaus mitwirken kann. In Berlin dagegen wird man schon schief angeguckt, wenn man sagt, dass man etwas Künstlerisches macht. Das muss man da gar nicht erwähnen, weil das ja schließlich alle machen...

Was zeichnet die Bühnen im Ruhrgebiet aus? Hast du eine Lieblingsbühne?

Es gibt hier viele einzigartige Bühnen, die in ehemaligen Fabrikhallen und auf Zechengeländen entstanden sind, wie die Jahrhunderthalle in Bochum zum Beispiel. An vielen Orten kann man buchstäblich sehen, wie sich die industrielle Prägung des Ruhrgebietes zu einer an der Kultur orientierten Szenerie wandelt. Das ist sicherlich etwas, was das Ruhrgebiet besonders macht. Ich persönlich bin gerne hier in Bochum im Schauspielhaus, wo ich mir Stücke ansehe und auch selbst auftrete. Besonders schön daran ist, dass ich ganz in der Nähe wohne und zu Fuß dahin laufen kann…

Du gehörst du den wenigen Poetry Slammern in Deutschland, die von der Kunst tatsächlich leben können. Wie hast du das geschafft?

Ich nehme nicht nur mit Kurzbeiträgen bei Poetry Slams teil, sondern bringe auch komplette eigene Abendprogramme zur Aufführung. Außerdem organisiere ich auch Veranstaltungen und ich leite Workshops zum Schreiben und Auftreten. Allein von Auftritten bei Poetry Slams zu leben, ist ziemlich unmöglich. Üblicherweise bekommt man da nur die Fahrtkosten erstattet und ein Freibier dazu.

Du hast ein Philosophie-Studium abgeschlossen und sogar ein paar Semester lang promoviert. Bist du deshalb so ein erfolgreicher Poetry Slammer?

Ich habe mich so intensiv mit der Philosophie befasst, dass da natürlich noch immer etwas im Hinterkopf ist und sich viele meiner Texte – nicht alle! – mit philosophischen Fragen beschäftigen. Und mein erster Roman ist tatsächlich ein Buch über Philosophie. Den habe ich gerade fertig geschrieben, er wird 2014 erscheinen. Vielleicht beruhigt das meine Eltern, die mein Studium finanziert haben...

Was machst du, wenn du nicht gerade auf der Bühne stehst, Veranstaltungen organisierst oder Workshops leitest?

Interviews geben! Und ich sitze viel am Schreibtisch und kümmere mich um Verträge, Abrechnungen und das ganze bürokratische Drumherum. Die wenig glanzvolle Schreibtischarbeit gehört leider auch zum glanzvollen Dasein als freischaffender Künstler.

Foto: © Christoph Neumann

In deinen aktivsten Zeiten hattest du um die 250 Auftritte im Jahr. Bleibt da überhaupt noch Zeit für ein Privatleben?

Vor einem oder eineinhalb Jahren war es noch so, dass mein Privatleben vornehmlich im Speisewagen eines Fernverkehrszuges stattfand. Jetzt habe ich meinem aufkeimenden Privatleben ein bisschen mehr Zeit eingeräumt und bin öfter mal Zuhause. Aber um die 150 Auftritte pro Jahr habe ich immer noch.

In diesem Jahr hast du dein zehnjähriges Bühnenjubiläum gefeiert. Trotzdem trägst du in deinem Namen noch immer dein Alter vom ersten Auftritt...

Auf die 23 in meinem Namen bin ich jetzt schon öfter angesprochen worden. Als ich letztes Jahr 32 wurde, haben viele gesagt: Jetzt kannst du die Zahl in deinem Künstlernamen ja einfach umdrehen. Ich glaube aber, dass das ein Fehler wäre: Viele Leute können sich meinen Namen nicht merken, aber immerhin die Zahl. So werde ich immer mal wieder Stephan 23 oder Christian 23 genannt...

Was wird sich in den kommenden zehn Jahren für dich ändern?

Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich schon in naher Zukunft ziemlich viel für mich ändern wird, denn ich bekomme bald einen Sohn! Da geht es dann noch mehr an die Nachwuchsarbeit und da stehen dann auch ganz andere Workshops an ... Und in zehn Jahren ist der dann zehn, dann wird es langsam Zeit für die ersten eigenen Auftritte!

Janna Degener

Copyright: Goethe-Institut Prag
September 2012
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