Zwischen Shanghai und Dorfidylle

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Eine angehende Landwirtin erzählt

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Maisverarbeitung in China, Foto: privat

Über mangelnde Karrierechancen kann sich Richeza Herrmann nicht beklagen: Eigentlich könnte die Sinologin und Juristin jetzt in einem schicken Büro sitzen und zwischen Shanghai und München hin und her pendeln. Doch Richeza entschied sich für einen ganz anderen Weg: Sie lässt sich auf einem Bio-Legehennenbetrieb mitten im Allgäu zur Landwirtin ausbilden. Dafür tauschte sie Aktenkoffer und Businesskostüm gegen Gummistiefel und Mistgabel und fährt lieber Traktor statt Rikscha-Taxi. Wie passt das zusammen? Und was reizt sie am Landleben?

Richeza, du hast in München studiert und auch längere Zeit in Shanghai und Peking gelebt. Jetzt arbeitest du auf einem Bauernhof. Ist das nicht ein ziemlicher Kulturschock?

Nein, überhaupt nicht. Ich bin zwar in München geboren, aber im Allgäu aufgewachsen. Alles ganz klein und idyllisch! Und auch meine China-Aufenthalte habe ich nicht nur in Großstädten verbracht, sondern die Gelegenheit genutzt, mir das Land anzuschauen, bin also auch in die Provinzen und vor allem auch in Dörfer gereist. Dank meiner Sprachkenntnisse bin ich mit den Menschen gut in Kontakt gekommen und habe Einblicke gewonnen, wie Landwirtschaft dort funktioniert. Rückblickend betrachtet war das der spannendste Teil meiner China-Reisen.

Heißt das, du bist eigentlich gar kein Stadtmensch?

Doch, total! Ich liebe Städte, ich mag das bunte Treiben und das kulturelle Angebot. Aber ich mag eben auch das Land. Ich glaube, ich bin einfach jemand, der den Kontrast braucht. Gleichzeitig grenze ich beides gar nicht so scharf voneinander ab: Ich fand es zum Beispiel schon immer spannend, direkt an die Quelle zu gehen, wollte schon immer wissen, wo unsere Nahrungsmittel eigentlich herkommen. Hauptsächlich deshalb habe ich mich für eine weitere Ausbildung entschieden, diesmal eben in der Landwirtschaft. Jetzt sitze ich nämlich selbst an der Quelle (lacht).

Wie sieht dein Alltag auf dem Betrieb aus?

Es fallen ganz verschiedene Arbeiten an, vom klassischen Stallausmisten über Feldarbeit bis hin zur Wartung der Maschinen. Das Klischee vom Bauern, der jeden Tag das Gleiche macht, ist übrigens total falsch: Es gibt zwar schon Routinearbeiten, aber eigentlich ist es nie monoton, jeder Tag ist anders.

Mobilität auf dem Land, Foto: privat

Was magst du am Dorfleben?

Vor allem den freien Blick in die Landschaft und die Ruhe. Das ist eine Sache, die mich an Städten schon immer gestört hat. Egal, wo man hinschaut: Die Sicht ist immer zugebaut! Und besonders in chinesischen Großstädten geht es ziemlich laut zu, viel lauter als in Europa. Für die Einheimischen ist das normal, aber als Westler kannst du dabei wahnsinnig werden! (lacht). Außerdem mag ich das Leben und die Arbeit in der Natur, das soziale Miteinander im Dorf, und auch, dass auf dem Land die Traditionen noch gepflegt werden. Was ich dagegen nicht so toll finde, das ist der Dorftratsch. Aber nicht jeder Tratsch ist böse gemeint. Übereinander-Reden kann auch heißen, sich füreinander zu interessieren und umeinander zu kümmern. In der Stadt ist die soziale Distanz einfach größer. Viele ziehen ja gerade wegen dieser Anonymität dorthin. Aber mein Ding ist das nicht.

Und wie steht es mit der Kultur?

Das fehlt einem auf dem Dorf manchmal schon! Wenn du in München essen gehen willst, hast du hunderte Möglichkeiten. Auf dem Land gibt es, wenn du Glück hast, den Dorfkrug – und das war´s! Manches kriegt man eben fast nur in der Stadt: Professionelles Theater, Galerien, Ausstellungen von berühmten Leuten. Zugleich leben ja auch viele Künstler bewusst auf dem Land, und stellen auch dort aus. Da findet man wundervolles Handwerk und Kunst! Außerdem: Wenn man mal wieder eine kulturelle Dröhnung braucht, dann kann man sie sich ja in der Stadt holen.

Du bist Sinologin, Juristin und, in einer paar Jahren, auch noch Landwirtin. Wie stellst du dir deine Zukunft vor? Und vor allem wo? Stadt oder Land?

Ich möchte beides verbinden. Die körperliche Arbeit auf einem Bauernhof werde ich nicht mein Leben lang machen und auch keinen eigenen landwirtschaftlichen Betrieb übernehmen. Trotzdem möchte ich weiter im Agrarsektor arbeiten, Landmaschinen vertreiben oder mich in der Nahrungsmittelindustrie um den Einkauf ökologischer Rohstoffe kümmern. Es gibt vieles, wofür mein Herz schlägt, und womit sich die drei Eckpunkte China-Jura-Agrarwirtschaft verbinden lassen und auch die Möglichkeit, mal in der Stadt, und mal auf dem Land zu sein. Ich brauche das einfach, um mich rundum wohl zu fühlen!


Das Interview führte Janika Rehak

Copyright: Goethe-Institut Prag
Mai 2012

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