Rhabarberkuchen von Mutti

Foto: Manuela Muschner

„Hotel Mama“ – bequemes Nest oder Krisenherd?

Ob in Deutschland oder in Tschechien - immer häufiger bleiben junge Erwachsene bis Mitte zwanzig und länger zu Hause bei ihren Eltern im „Hotel Mama“. Wie das Zusammenleben mit den Eltern verläuft und ob es in diesem Alter wirklich gewünscht oder doch eher eine Notwendigkeit ist, erzählen Tobias, Katrin und Tereza.

Tobias Seidel aus Hessen lebt trotz seiner 24 Jahre und seines eigenen Einkommens noch bei seinen Eltern. Genau wie für seinen Bruder, der erst mit 26 Jahren von zu Hause fort ging, kam bisher auch für Tobias ein Auszug nie in Frage. Da er sich nach seinem Abitur für eine Ausbildung zum Sozialfachangestellten entschied, hätte er sich eine eigene Wohnung leisten können. Aber ein Umzug innerhalb einer Stadt, das wäre ja „total irrsinnig“, so Tobias.

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Tobias Seidel aus Hessen lebt trotz seiner 24 Jahre und seines eigenen Einkommens noch bei seinen Eltern. Foto: Manuela Muschner

Warum auch, das Einfamilienhaus mit grünem Vorgarten und eigener Etage für Tobias ist sehr einladend. Zur Begrüßung gibt es erst mal ein Stück Rhabarberkuchen. Selbst gebacken - von der Mutter. Und Mama kocht und backt nicht nur, sondern wäscht, bügelt und putzt auch noch. Manchmal räumt sie sogar für Tobias auf. „Das kann ich eigentlich alleine“, verteidigt er sich, aber er ist froh, dass die Mutter für ihn die Wäsche erledigt: „Ich weiß gar nicht, wie das geht. Welche Wäsche zusammen kommt.“ Obwohl sich Mama Seidel oft beschwert, dass die Männer im Haushalt nicht helfen, ändert sich an der Rollenverteilung nichts.

Wie lange Tobias noch im „Hotel Mama“ wohnen wird, entscheidet der Ort des Studiums, das er im Oktober beginnen wird. Beworben hat er sich jedoch hauptsächlich an hessischen Universitäten, die nicht mehr als zwei Stunden von zu Hause entfernt sind.

Nach den eigenen Regeln leben

Die selbstbewusste IT-Beraterin Katrin Becker (27), ebenfalls aus Hessen, zog bereits mit 19 Jahren aus, zwei Monate nach dem Abitur. Tobias‘ Haltung kann sie nicht nachvollziehen: „Auf eigenen Beinen zu stehen, ist eine sehr wichtige Erfahrung.“ Bereits mit 17 Jahren sehnte sie den Auszug von zu Hause herbei, weil es immer öfter zu Streit kam. Die Eltern seien ihr irgendwann zu anstrengend und überfürsorglich gewesen. Was für Tobias weniger ein Problem war, entwickelte sich in Familie Becker schnell zum Konflikt und musste zwangsläufig eskalieren. „Meine Mutter und ich haben uns irgendwann im Treppenhaus angebrüllt. Und dann hab ich mir eine eigene Wohnung gesucht.“ Sie zog für ein duales Wirtschaftsinformatik-Studium nach Mannheim. Das Geld sei zwar anfangs ohne Ersparnisse sehr knapp gewesen, aber zur Not hätte ihre Oma sie jederzeit unterstützt.

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Katrin, inzwischen auch, entgegen den Vorstellungen ihrer Eltern, stolze Hundebesitzerin. Foto: Manuela Muschner

Mittlerweile wohnt Katrin in München und weiß, dass die Abnabelung von ihren Eltern sehr wichtig für die Entwicklung beider Seiten war: „Wenn man nicht auszieht, dann raffen die Eltern nicht, dass man erwachsen ist. Seit der Distanz verstehen wir uns wieder super. Ich kann mein Leben so gestalten, wie ich möchte, ohne mich den Regeln meiner Mutter zu unterwerfen.“, lächelt Katrin, inzwischen auch, entgegen den Vorstellungen ihrer Eltern, stolze Hundebesitzerin.

Statt Küchendienst Kaffeetrinken

Auch die 26-jährige Tschechin Tereza aus Brno hat den Sprung in die Eigenständigkeit geschafft. Sie ist vor wenigen Monaten aus dem Elternhaus zu ihrem Freund gezogen und arbeitet nach ihrem Wirtschaftsstudium nun in einer Bank. „Während des Studiums war es einfacher, bei meinen Eltern zu wohnen. Sie haben ein Haus – also genug Platz“, erklärt die blonde schlanke Frau. Im Gegensatz zu Tobias war für Tereza das Wohnen zu Hause auch eine Geldfrage: „ Als Studentin hatte ich zwar immer Nebenjobs, aber ich hätte mir eine eigene Wohnung nicht leisten können. Ich denke, dass geht den meisten Studenten in Tschechien so.“ Während ihrer Zeit zu Hause half Tereza jedoch gemeinsam mit ihren jüngeren Schwestern der Mutter jede Woche beim Haushalt. „Ob Küchendienst, Kochen, Waschen oder Gartenarbeit - wir haben alles geteilt.“, erklärt Tereza, als sei es die normalste Sache der Welt.

Bei Tereza hat sich trotz ihres Auszugs der Kontakt zu ihren Eltern nicht verschlechtert. Ganz im Gegenteil: Sie sehen sich jede Woche und mit ihrer Mutter trifft sie sich oft auf einen Kaffee.

Foto: privat

Tereza (rechts) mit ihrer Mutter und ihrer Schwester, Foto: privat

Wie viele junge Erwachsene ihren Eltern im Haushalt wirklich helfen, so dass das „Hotel Mama“ eher eine fast gleichberechtigte Wohngemeinschaft ist, lässt sich nur schwer überprüfen. So oder so, Geldprobleme erschweren heute häufig einen frühen Auszug, da Nebenjobs und Azubi-Gehalte oft nicht ausreichen und staatliche Förderungen weder in Deutschland noch in Tschechien jedem zugänglich sind.

Das Beispiel von Tobias verweist auf ein weiteres Problem: Bequemlichkeit und die Angst vor dem Unbekannten. Ist es in einer Zeit, in der man sich nicht nur vor dem Eintritt ins Berufsleben, sondern sogar vor dem Einzug in eine WG gegen viele Mitbewerber behaupten muss - so verwerflich, noch ein bisschen länger auf Sicherheit zu setzen? Praktika, befristete Verträge, Einsparungen - viele Probleme gibt es heute, an die vor 40 Jahren nicht einmal zu denken war.

Trotz dieser Aussichten lohnt sich der Sprung in die Eigenständigkeit, wie Katrin meint: „Erst nach dem Auszug weiß man, wer man ist und wo man steht.“

Manuela Muschner

Copyright: Goethe-Institut Prag
Mai 2012

    „Hotel Mama“

    Laut den letzten Angaben des Europäischen Datenservice liegt das durchschnittliche Auszugsalter in Deutschland von Frauen bei 23 und von Männern bei 25 Jahren, in der Tschechischen Republik durchschnittlich je zwei bis drei Jahre später. Dabei ist in den letzten 40 Jahren eine leicht steigende Tendenz ersichtlich: 1972 lebten laut dem Deutschen Statistischen Bundesamt 20 Prozent der 25-Jährigen noch im Elternhaus, wohingegen es im Jahr 2010 31 Prozent waren - drei von zehn jungen Erwachsenen.  

    Eine Erklärung für die gestiegene Zahl der „Nesthocker“ sind längere Ausbildungszeiten und der dadurch spätere Eintritt ins Berufsleben, wodurch sich viele junge Menschen zunächst keine eigene Wohnung leisten können. Zwar gibt es in Deutschland wie in Tschechien staatliche Förderungen wie Bafög oder Stipendien, diese können aber nicht immer mit Mutters Rockzipfel konkurrieren. Zumal nicht immer finanzielle Gründe ausschlaggebend sind.

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