Hungern für Veränderung
Ein Hungerstreik ist oft die letzte und radikalste Form des passiven Widerstandes. Mediale Aufmerksamkeit ist gewiss – schwerwiegende körperliche Folgen ebenso. Was geschieht mit dem Körper während eines Hungerstreiks? Was motiviert den Streikenden dazu die physischen Strapazen auf sich zu nehmen? Ein Flüchtling in Bayern und der ehemalige tschechische Europaabgeordnete Libor Rouček können aus eigener Erfahrung darüber berichten.
„Nur mit einem Hungerstreik konnten wir die größtmögliche mediale Präsenz erreichen.“ erzählt ein 25-jähriger Flüchtling, der aus Angst vor Strafverfolgung weder seinen Namen noch seine Herkunft preisgeben will. Er nahm im Jahr 2013 an einem Hungerstreik in Dingolfing teil. Die kleine Stadt in Niederbayern war damals nur einer der Schauplätze einer Protestwelle, die in ganz Deutschland die Stärkung von Asylbewerberrechten zum Ziel hatte. „Ich kam vor acht Monaten nach Deutschland. Manchmal ist es langweilig, weil ich nicht länger als drei Tage von hier weg und auch nicht arbeiten darf.“ Das sei ungerecht, findet der Flüchtling, und deshalb entschied auch er sich in den Hungerstreik zu treten – gemeinsam mit zwölf weiteren Leidensgenossen, die laut Medienberichten überwiegend aus dem Mittleren Osten kamen „Ich frage mich, warum unsere Akten nicht bearbeitet werden, wenn doch in unserem Land Verfolgung droht. Wir wollten Druck auf die Regierung ausüben, damit die Politiker endlich etwas an unserer Situation ändern.“
Der Hungerstreik war jedoch nicht die erste Wahl: „Dem Hungerstreik, der ja nicht nur in Dingolfing stattfand, sondern auch in vielen anderen deutschen Städten, gingen viele Protestmärsche und Demonstrationen voraus, aber nichts änderte sich.“ Die Medien hätten kaum darüber berichtet und auch die bayerische Landesregierung habe keine Reaktion gezeigt, sagt der Flüchtling. „Wir aber wollten unser Anliegen in den Fokus rücken. Durch die Protestmärsche ist uns das nicht gelungen, deshalb mussten wir eine stärkere Form des Widerstandes finden.“ So schlugen die 13 Asylbewerber ihr Camp vor dem Landratsamt in Dingolfing auf und entschieden sich dafür, weder zu essen noch zu trinken.
Mediale Aufmerksamkeit instrumentalisieren
Ein Hungerstreik sensibilisiert die Öffentlichkeit, das steht fest. Sei es aus Sensationsgier oder aus tatsächlichem Interesse für das Anliegen des oder der Streikenden. Deren Ziel ist es wiederum, das Medieninteresse zu instrumentalisieren. Aus diesem Grund bestritt auch der tschechische Politiker Libor Rouček als 23-Jähriger einen zehntägigen Hungerstreik in Wien. Das war im Jahr 1978, genau zehn Jahre nach der Niederschlagung des Prager Frühlings. „Ich lebte im Exil in Österreich, war ein unbekannter junger Student und wollte Aufmerksamkeit für die politische Situation in der Tschechoslowakei wecken. Ein Hungerstreik schien mir der beste Weg dafür zu sein“, erzählt Rouček, der bis 2014 für die tschechischen Sozialdemokraten im Europäischen Parlament saß. Weitere Gedanken habe er sich damals nicht gemacht. Seine Aktion startete ziemlich spontan. Zwischen dem Büro der tschechoslowakischen Fluglinie ČSA und der sowjetischen Aeroflot auf der Wiener Ringstraße stellte Rouček ein Zelt auf und campierte dort für die Dauer seines Streiks.
„In Wien kamen sowohl Freunde, als auch fremde Personen zu mir, um mich zu unterstützen. Auch im Fernsehen und im Rundfunk wurde darüber berichtet“, erzählt der Politiker. Die körperlichen Strapazen seien überschaubar gewesen, erinnert sich Rouček. „Die ersten drei bis vier Tage waren schlimm, dann hat sich der Körper aber daran gewöhnt. Natürlich wurde ich schwächer, ich habe ja sieben oder acht Kilo abgenommen damals. Psychisch war ich aber stabil. Ich war mir zu jeder Zeit sicher, dass ich das durchziehen werde. Ich wusste, dass es einem guten Zweck dient und nach zehn Tagen wieder vorbei ist. Dadurch fiel es mir leichter.“ Rouček erlaubte sich damals während des Streiks Wasser und Tee zu trinken – im Gegensatz zu den Flüchtlingen in Dingolfing 2013.
Nichts mehr zu verlieren als das Leben
„Wir streikten fünf Tage lang. Manche sind in Ohnmacht gefallen, weil wir keine Flüssigkeit zu uns genommen haben. Die sind dann ins Krankenhaus gekommen, haben dort Wasser eingeflößt bekommen und sind dann wieder zurückgekehrt, um weiter zu protestieren“, erzählt der junge Mann, der sich in Dingolfing am Hungerstreik beteiligte. „Ich selbst hatte starke Bauch- und Gelenkschmerzen. Ich fühlte mich die ganze Zeit schläfrig, wie taub und war sehr schwach.“ Ein anderer Streikender habe kaum noch reden können, erinnert er sich. Fast nach jedem Wort habe er eine Pause einlegen müssen.
Aber diese starken körperlichen Beeinträchtigungen hielten die Gruppe nicht davon ab weiterzumachen. „Was haben wir noch zu verlieren außer zu sterben. Das aber nehmen wir in Kauf. Der Tod kann nicht so schlimm sein wie unsere Situation, denn in unserem Land sind wir verfolgt und woanders auch nicht gewollt.“ Der Flüchtling gibt zu, dass ein solcher Streik natürlich auch mentale Auswirkungen hat. „Wir waren aber überzeugt, dass wir das aushalten. Notfalls auch bis zum Tod. Was bleibt uns anderes übrig? Aber es half uns auch, dass wir eine Gruppe war, die zusammenhält. Man lässt die anderen nicht einfach im Stich.“
Keine konkreten Reaktionen der Behörden
Die Gruppendynamik konnte Libor Rouček zwar nicht nutzen, doch ein Ziel, eine Öffentlichkeit für die Zustände in seinem Heimatland herzustellen, hatte er damit erfüllt. Den Hungerstreik würde der Politiker auch heute wieder machen: „Dadurch konnte ich die Thematik in die Medien bringen.“
Während Rouček nach zehn Tagen wieder freiwillig wieder zu Messer und Gabel griff, löste die Polizei den Hungerstreik in Dingolfing nach fünf Tagen auf. Weil die Flüchtlinge auch nach mehrmaliger Aufforderung durch die Polizei den Platz nicht räumten, wurden sie festgenommen und teilweise in ärztliche Behandlung übergeben. Aus den Kreisen der Asylbewerber heißt es außerdem, dass dabei auch Gewalt angewendet wurde. Ob ihre Aktion etwas gebracht hat, wissen die Flüchtlinge jedoch noch immer nicht genau. Zwar wurden aufgrund der Proteste in Deutschland teilweise Aufenthaltsgenehmigungen ausgestellt, aber eine konkrete Reaktion von Seiten der Behörden gab es bis heute nicht.