Was verbindet uns?

Foto: © Zuzana RoithováFoto: © Petra Fujdlová
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Ist es möglich Europäer zu sein genauso wie man Tscheche, Deutscher oder Bewohner von Hintertupfing ist? Nach außen erfüllt die Europäische Union alle formalen Merkmale einer nationalen Gemeinschaft. Haben wir alle – von der Nordsee bis zum Mittelmeer – aber wirklich etwas gemeinsam? Oder ist die europäische Identität nur ein künstliches Konstrukt?

Unter nationaler Identität versteht man in der Regel das Gefühl, irgendwo hinzugehören. Verbindende Faktoren zu anderen Menschen, die wir ansonsten persönlich nicht kennen, sind ein durch Grenzen definiertes Gebiet, eine gemeinsame historische Entwicklung, die Religion, Kultur, eine gemeinsame Sprache, mit der wir unsere Werte und Traditionen seit Generationen weitergeben. So oder so ähnlich haben die meisten diese Schul-Definition von nationaler Identität abgespeichert.

Aus Meinungsumfragen geht hervor, dass der praktische Umgang der Menschen mit Fragen der Gruppenidentifizierung jedoch zynischer und abgeklärter ist. Obwohl auf die direkte Frage, ob es eine europäische Identität gebe, die Mehrheit mit „Ja“ antwortet, ist die Skala der Antworten letztlich breiter. Mit dem Gedanken einer gemeinsamen europäischen Staatsangehörigkeit identifiziert sich laut einer Eurobarometer-Umfrage von 2012 eine knappe Mehrheit der europäischen Bevölkerung, wobei die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern groß sind. Während 85 Prozent der Luxemburger dem zustimmen, sind es in Großbritannien lediglich 45 Prozent. Im Übrigen verbinden die meisten Menschen die europäische Identität mit den verschwindenden Grenzen zwischen den einzelnen Staaten. Der freie Personenverkehr innerhalb des Schengen-Raums bildet also einen Raum mit „gemeinsamen“ Außengrenzen, die die „europäische Nation“ haben sollte.

Respekt vor dem Individuum

Václav Havel unterschied den geografischen Begriff Europas vom Verständnis Europas als ein geistiger Raum, der von „gemeinsam geteilten Schicksalen, einer gemeinsamen komplizierten Geschichte, gemeinsamen Werten und einer gemeinsamen Kultur des Lebens“ geprägt ist. Allen Europäern ist ohne Zweifel das Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte gemeinsam. „Also einschließlich der positiven Kapitel der Annäherung sowie der negativen Momente gegenseitiger bedeutender Schlachten, Kriege oder Revolutionen und vor allem das geistige und kulturelle Erbe der Antike und des Christentums, das in Architektur, Literatur, Kunst, Musik, Traditionen, Folklore, Bauernregeln oder Sprichwörtern sichtbar wird“, erläutert der Publizist Jan Jůn.

Foto: © Petra Fujdlová
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Die Einhaltung der Menschenrechte und die demokratischen Grundwerte stellen Ideale dar, über die sich Europa in der Regel selbst definiert; der Kontinent sieht sich als Träger von humanitären Werten, von Toleranz und Demokratie, Freiheit und Frieden. „Europa unterscheidet sich von anderen Zivilisationskreisen dadurch, dass besonderer Wert auf den Respekt zum Individuum gelegt wird; das basiert auf dem Humanismus des Christentums, und es ist die Grundlage für den Schutz der Menschenrechte und den Gedanken der Solidarität“, beschreibt die Existenz einer europäischen Identität Pavel Svoboda, Kandidat der tschechischen christdemokratischen KDU-ČSL für das Europaparlament. Die Frage ist jedoch, ob uns das vom Rest der Welt unterscheidet. Ist der Humanismus nicht der gesamten Menschheit zu Eigen? Nigel Bellingham, Direktor des British Council in Prag, gibt zu bedenken, dass diese demokratischen Ideale universell sind. Und außerdem sind Ideale die eine Sache, die Realität eine andere.

Vielfalt und Einzigartigkeit

Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben eine gemeinsame Fahne, eine gemeinsame Hymne, eine gemeinsame Währung mit gemeinsamen Banknoten, sogar einen gemeinsamen Feiertag. Aber wer weiß, dass die EU-Hymne Beethovens Ode an die Freude ist? Im Übrigen wird das Stück stets ohne Worte gespielt, weil es die Hymnen der einzelnen Staaten nicht ersetzen soll. Es kann auch ein Problem sein, dass keines dieser Symbole natürlich entstanden ist. Der Historiker Jan Palmowski ist überzeugt, dass der tatsächliche Grund für die Skepsis der Öffentlichkeit gegenüber der Idee eines „Europäertums“ als gemeinsame Identität darin besteht, dass sie nicht von den Menschen geprägt wird, sondern von Beamten, Institutionen und Gesetzestexten. „Es ist ein Problem für die europäische Integration, dass diese gemeinsame Identität nicht so stark ist, dass man von einem europäischen Demos, also einem politischen Staatsvolk sprechen kann. Daraus ergeben sich zahlreiche konkrete Probleme für die Integration der Union und das macht eine tiefe politische Integration derzeit praktisch unmöglich“, sagt Jakub Janda von der Bürgerinitiative Europäische Werte.

Das Motto der Europäischen Union lautet „In Vielfalt geeint“ („United in diversity“). Es stammt ursprünglich aus dem Vertrag über eine Verfassung für Europa, die schließlich in dieser Fassung nicht verabschiedet wurde. Das Motto ist jedoch eines der Symbole der EU geblieben. Die auf den ersten Blick unlogische Verbindung zweier Wörter ist in Wirklichkeit gar nicht so paradox. Was die europäischen Staaten am deutlichsten charakterisiert, ist tatsächlich ihre Vielfalt und Einzigartigkeit. Trotz dieser Unterschiedlichkeit verfügen die europäischen Staaten über eine gewisse Ähnlichkeit: „Wann immer ich von einem anderen Kontinent zurückkehre und auf einem beliebigen europäischen Flughafen lande, habe ich das Gefühl, wieder zu Hause zu sein“, sagt die Abgeordnete des Europäischen Parlaments Zuzana Roithová.

Die zwölf goldenen Sterne auf der Fahne der Europäischen Union bedeuten keinen geschlossenen Kreis von zwölf Mitgliedern, die keinen Fremden unter sich haben wollen. Die Zahl zwölf wird traditionell als ein Symbol von Vollkommenheit und Einheit wahrgenommen. Genauso sollte die europäische Identität eher als Symbol denn als Maßstab wahrgenommen werden. Sie symbolisiert das Bemühen um eine Zusammenarbeit im Bewusstsein gemeinsamer Werte und Ideale und das Streben nach einer von Toleranz und Verständnis geprägten Einigkeit – und muss nicht notwendigerweise als ein geografisch bestimmtes, den Nationen übergeordnetes Konzept verstanden werden. „Eine gemeinsame europäische Identität und eine nationale Identität schließen sich gegenseitig nicht aus. Im Gegenteil, sie ergänzen sich. Ich kann ein guter Prager, tschechischer und europäischer Patriot gleichzeitig sein“, betont der Europa-Abgeordnete Libor Rouček. Die gemeinsame Identität sollte das Ziel verfolgen, die kulturelle Vielfalt zu unterstützen und weiterzuentwickeln, denn diese Vielfalt, so scheint es, ist das elementare Merkmal der europäischen Kultur.

Passend dazu schlägt Nigel Bellingham in seinem Essay Gehören die europäischen Werte nur Europa? Folgendes vor: „Anstatt sich Diskussionen über eine gemeinsame mitteleuropäische Identität aufzuzwingen, sollten sich die Länder des neuen (neueren) Europa in erster Linie darum bemühen, ihre Einzigartigkeit zu erhalten und zu feiern – sei es ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Sachkundigkeit oder Tradition. Sie sollten verstehen, dass gerade ihre eigene Vielfalt einen bedeutenden Beitrag zum gesamten europäischen Projekt darstellt.“

Jakub Janda, gemeinnütziger Verein und Bürgerinitiative Europäische Werte

Foto: © Jakub Janda

Gibt es eine europäische Identität?

Sicherlich kann man sagen, dass die Europäer über einen gemeinsamen Bestand an Werten verfügen, die sich von Werteparadigmen beispielsweise asiatischer oder arabischer Nationen unterscheiden. Und gewiss kann die euro-atlantische Zivilisation wertespezifisch etwas vereinfacht mit dem Verweis auf das Erbe des römischen Rechts, des griechischen Regierungsverständnisses, der mit der Aufklärung erkämpften Säkularisierung und die jüdisch-christliche Wertetradition charakterisiert werden. Dazu könnten sicherlich noch weitere wichtige Elemente hinzugefügt werden. Für die europäische Integration besteht jedoch das Problem, dass diese gemeinsame Identität nicht so stark ist, um von einem europäischen Demos, also einem politischen Staatsvolk sprechen zu können. Daraus ergeben sich zahlreiche konkrete Probleme für die Integration der Union und das macht eine tiefe politische Integration derzeit praktisch unmöglich.

Zuzana Roithová, Abgeordnete des Europa-Parlaments für die KDU-ČSL

Foto: © Zuzana Roithová

Gibt es eine europäische Identität?

Unsere europäische Identität wird uns bewusst, wenn wir gemeinsame Probleme der Bürger unserer Länder gemeinsam und basierend auf Prinzipien lösen wollen, die aus der europäischen Wertetradition hervorgehen und mit denen sich die Mehrzahl der Europäer trotz kultureller Unterschiede identifizieren kann. Es ist das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, das Bewusstsein des gemeinsamen Willens, eine Einigung zu erzielen und in offener Nachbarschaft in Frieden und mit Respekt gegenüber dem anderen zu leben. Und zwar deshalb, weil wir gemeinsame Wurzeln, eine gemeinsame Geschichte und zweifelsohne eine gemeinsame Zukunft haben. Wann immer ich von einem anderen Kontinent zurückkehre und auf einem beliebigen europäischen Flughafen lande, habe ich das Gefühl, wieder zu Hause zu sein.

Pavel Svoboda, Kandidat der KDU-ČSL für das Europa-Parlament

Foto: © Pavel Svoboda

Gibt es eine europäische Identität?

Ja, eine europäische Identität existiert. Europa unterscheidet sich von anderen Zivilisationskreisen dadurch, dass besonderer Wert auf den Respekt zum Individuum gelegt wird; das basiert auf dem Humanismus des Christentums, und es ist die Grundlage für den Schutz der Menschenrechte und den Gedanken der Solidarität.

Jan Jůn, Publizist und ehemaliger Korrespondent von Radio Freies Europa

Foto: © Jan Jůn

Gibt es eine europäische Identität?

Ja, die gibt es. Es ist das Bewusstsein einer gemeinsamen Geschichte des Kontinents einschließlich der positiven Kapitel der Annäherung sowie der negativen Momente gegenseitiger bedeutender Schlachten, Kriege oder Revolutionen und vor allem das geistige und kulturelle Erbe der Antike und des Christentums (Architektur, Literatur, Kunst, Musik, Traditionen, Folklore, Bauernregeln oder Sprichwörtern). Das alles ist wesentlich europäisch und formt jene Identität.

Libor Rouček, Europa-Abgeordneter für die ČSSD

Foto: © Libor Rouček

Gibt es eine europäische Identität?

Eine europäische Identität existiert ganz sicher. Es ist das Bewusstsein des gemeinsamen europäischen Raumes, der gemeinsamen Geschichte, gemeinsamer Freuden und Probleme. Eine gemeinsame europäische Identität und eine nationale Identität schließen sich gegenseitig nicht aus. Im Gegenteil, sie ergänzen sich. Ich kann ein guter Prager, tschechischer und europäischer Patriot gleichzeitig sein.

Umfrage: Gibt es eine europäische Identität?

Petra Fujdlová
Übersetzung: Ivan Dramlitsch

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
Mai 2014

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