Wie steigt man aus?

© 2013 by ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbHFoto (Ausschnitt): Rainer Klute, CC BY 2.0
Foto (Ausschnitt): Rainer Klute, CC BY 2.0

Verschiedene Programme unterstützen Aussteiger aus der rechtsextremen Szene bei der Resozialisation und Deradikalisierung.

An wen können sich Aussteiger wenden?

Es gibt eine Reihe von Programmen in Deutschland, die Aussteiger aus der Neonaziszene bei der Reintegration in die Gesellschaft unterstützen. Auf lokaler und regionaler Ebene gibt es zahlreiche Initiativen, an die sich Aussteiger wenden können. Bundesweit arbeiten nur das zivilgesellschaftliche Aussteigerprogramm EXIT Deutschland und das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV).

Wer Aussteigern am besten helfen kann, hängt von der konkreten Situation des Aussteigers ab. Die bundesweiten Programme richten sich an Menschen, die aus dem hochradikalisierten Milieu kommen und sich möglicherweise in einer akuten Bedrohungssituation befinden. Für Jugendliche, die eine Zeitlang in einer rechten Gruppe aktiv waren, ist es oft zielführender, sich direkt an ein lokales Programm zu wenden. Das kann etwa dabei helfen, ein Praktikum in der Nähe zu finden und so den Anschluss an die Zivilgesellschaft besser zu schaffen. Kontakte zu lokalen Initiativen herstellen kann zum Beispiel die Polizei.

Was ist der Unterschied zwischen dem staatlichen Aussteigerprogramm des BfV und dem zivilgesellschaftlichen Programm von „EXIT Deutschland“?

EXIT Deutschland ist das größte und erfolgreichste Ausstiegsprogramm mit einer Rückfallquote von etwa zwei Prozent. Seit seiner Gründung im Jahr 2000 hat EXIT 500 abgeschlossene Fälle, das Ausstiegsprogramm des BfV im selben Zeitraum etwa 100 Fälle zu verzeichnen. Rückfall bedeutet in diesem Fall, dass Aussteiger trotz vollzogenem Ausstiegsprozess in irgendeine Form von Kriminalität zurückkehren.

Das zivilgesellschaftliche Programm EXIT unterscheidet sich vor allem methodisch von dem staatlichen Programm des Verfassungsschutzes: Während der Verfassungsschutz nur die sogenannte Verhaltensebene berücksichtigt, das heißt, ausschließlich daran arbeitet, mit der zu betreuenden Person einen Ausstieg aus der Kriminalität zu vollziehen, geht es bei EXIT um den Abbau von Ideologie: „Damit sich das Verhalten ändert, muss auch die dahinterliegende Ideologie verändert werden. Das Ziel von EXIT ist es dabei nicht, die Menschen zu vollen Demokraten zu oder zu verlässlichen Wählern zu erziehen. Unser Hauptziel ist es, zu einem selbstreflektierten, verantwortungsbewussten, auf Respekt basierendem Menschenbild zu führen, das auf der kritischen Reflexion der eigenen Vergangenheit und Persönlichkeit fußt und das den Aussteigern ermöglicht, sich mit Respekt gegenüber jeglichem menschlichen Leben in dieser Gesellschaft bewegen zu können“, erklärt der wissenschaftliche Leiter der Forschungsabteilung von EXIT Daniel Köhler das Konzept von EXIT Deutschland.

Wie läuft ein Ausstiegsprozess ab?

Bei EXIT Deutschland gibt es eine zwei- bis dreimonatige Kennenlernphase, in der Fallbetreuer und Aussteiger feststellen, in welcher konkreten Situation sich der Aussteiger befindet und wie ein Ausstiegsprozess im Detail ablaufen könnte. Nach dieser Phase beginnt der eigentliche Ausstiegsprozess, der durchschnittlich drei bis vier Jahre dauert und auf einem individuellen Plan basiert.

Deutlich kürzer verlaufen die Ausstiegsprozesse des Verfassungsschutzes. Aus juristischen Gründen kann und darf sich das BfV nicht mit der ideologischen Motivation des Aussteigers beschäftigen. Im Gegensatz dazu beginnt für EXIT Deutschland erst an dieser Stelle der Ausstieg. Mit verschiedenen Methoden, beispielsweise Medienprojekten wie Ausstellungen, Interviewstudien oder Gesprächen mit Schülern, in selteneren Fällen auch im Täter-Opfer-Dialog, sollen Aussteiger ihre Vergangenheit reflektieren und Verantwortung dafür übernehmen.

Empfehlen Organisationen einen öffentlichen oder nicht-öffentlichen Ausstieg?

Besonders staatliche Programme äußern gelegentlich Kritik daran, dass EXIT Deutschland mit manchen Aussteigern an die Öffentlichkeit geht. Tatsächlich sind es aber auch hier nur ein bis zwei Prozent aller Aussteiger, die mit Namen und Gesicht in die Medien gehen. Ein öffentlicher Ausstieg erhöht das Gefährdungspotential, weil man in der rechten Szene damit endgültig als Verräter gilt. Andererseits kann es für Aussteiger sinnvoll sein, an die Öffentlichkeit zu gehen, um der Gesellschaft zu zeigen, dass der Ausstieg ernst gemeint ist. Auch psychologisch könne ein öffentlicher Ausstieg Vorteile bringen, sagt Daniel Köhler, der wissenschaftliche Leiter der Forschungsabteilung von EXIT: Öffentlich Verantwortung für die eigene Vergangenheit zu übernehmen bedeute auch, darüber zu reflektieren, was man selbst getan habe und mit welcher Motivation. In den meisten Fällen treten Aussteiger in den Medien jedoch anonym auf.

Was passiert, wenn Betreuer von Straftaten erfahren, die Aussteiger begangen haben?

EXIT Deutschland unterscheidet dabei zwischen Kapitalverbrechen oder schweren Straftaten und Ordnungswidrigkeiten. „Wenn wir Kenntnis davon bekommen, dass jemand einen Anschlag geplant, jemanden umgebracht oder zusammengeschlagen hat, ist es unsere staatsbürgerliche Pflicht, dies den Behörden zu melden – idealerweise zusammen mit dem Aussteiger“, erklärt Daniel Köhler. Strafprozesse können durch Aussteigerorganisationen weder behindert noch beendet werden. „Im Einzelfall kann es bei der Persönlichkeitsbewertung durch einen Richter oder Polizisten natürlich helfen, wenn jemand an einem Ausstiegsprogramm teilnimmt“, sagt Köhler.

Bei anderen juristischen Auseinandersetzungen, etwa in Mietangelegenheiten oder im Arbeitsrecht, kann eine Organisation wie EXIT vermittelnd einschreiten. Sie kann dem Arbeitgeber oder Vermieter beispielsweise schriftlich bestätigen, dass sich eine Person im Ausstiegsprozess befindet und glaubhaft versichert, mit der neonazistischen Ideologie gebrochen zu haben.


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November 2013

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