„Ein irrsinniges Gewaltpotenzial“

Rechtsextremismus und völkisches Denken in Ungarn

Foto (Ausschnitt): Tobi85, public domain / gemeinfrei
Mitglieder der rechtsradikalen, ungarischen Vereinigung „Magyar Gárda“ (Ungarische Garde); Foto (Ausschnitt): Tobi85, public domain / gemeinfrei

Der Rechtsruck in der ungarischen Politik ist besorgniserregend. Trotz des Verbots von 2009, zieht die paramilitärische Ungarische Garde der Jobbik weiter durch das Land und hetzt im Namen des Großungarntums gegen Juden und „Zigeunerkriminalität“.

Wie definiert sich völkisches Denken in Ungarn?

Man kann sagen, die ungarische Gesellschaft ist eine Parallelgesellschaft. Es gibt eine große völkische und eine kleinere liberale, kosmopolitische und demokratisch denkende Seite. Das Völkische ist zunächst ein organisches, biologistisches Denken, das die Nation als ethnisch homogene Gemeinschaft auffasst. Zweitens handelt es sich um ein imperiales Denken, weil es auch die ethnischen magyarischen Minderheiten in den umliegenden Ländern umfasst. Das heißt, die jetzigen Grenzen Ungarns werden nach diesem Denken nicht beachtet. Es gehört zum Automatismus des völkischen Denkens, dass es auf die Suche nach inneren Feindbildern angewiesen ist, um sich selbst zu definieren. Und diese Fremden sind in Ungarn die Juden und „Zigeuner“.

Foto: © Fabien Champion
Antisemitismus-Spezialistin und Antifa-Mitglied Magdalena Marsovszky während einer Antifa-Demo am 6. März 2010 auf dem Heldenplatz in Budapest

Weiterhin richtet sich der ungarische Antisemitismus in seiner heutigen Form jedoch nicht immer gegen real existierende Juden, sondern gegen alle Menschen, die antisemitischen Stereotypen entsprechen. Das sind auch die Kosmopoliten und Linksliberalen, die Urbanen und die Intelligenzia oder die sündige Großstadt. Alles, was diesem völkischen Denken nicht entspricht, wird als jüdisch abgestempelt. Und so kann eben auch die EU eine von „Juden gemachte“ oder „verjudete“ Gemeinschaft sein, die eigentlich fremdbestimmt sein soll. In rechtsradikalen Kreisen in Ungarn spricht man von der so genannten „Tel Aviv-New York-Brüssel Achse“. Hinter dem völkischen Denken steckt ein irrsinniges Gewaltpotenzial.

In welchen Bereichen der Gesellschaft kommt dieses völkische Denken konkret zum Ausdruck?

Das Völkische ist in Ungarn in allen Gesellschaftsschichten präsent. Es gibt sogar völkische Wohnsiedlungen. In Inseraten heißt es manchmal „Bei uns mögen sich nur national Gesinnte melden“. Es gibt sogar eine Taxi-Gemeinschaft, die sich Jobb-Taxi nennt und der rechtsradikalen Jobbik-Partei nahe steht. Das heißt „völkisch Gesinnte rufen uns an“. Das Magyarentum sagt „Kauft bei uns“ und per Ausschlussprinzip heißt das, „kauft nicht bei den Juden“. Parallel zum bekannten Sziget-Festival findet jährlich im Sommer auch das rechtsradikale Anti-Festival „Magyar Sziget“ („Magyarische Insel“) statt, das einen sehr starken Sog hat und die Nation sakralisiert. Das völkische Denken ist auch in den Schulen und den öffentlich-rechtlichen Medien weit verbreitet.

Wie konnte sich eine Untergrundbewegung wie Jobbik in den letzten Jahren zu einem regelrechten System entwickeln, das zu den Europawahlen 2009 14,7 Prozent erreichte und im April 2010 mit knapp 12,2 Prozent den Sprung ins ungarische Parlament schaffte?

Foto: © Fabien Champion
Roma-Protestveranstaltung Zum Gedenken der Opfer am 6. März auf dem Heldenplatz in Budapest

Die Jobbik spricht offen an, was alle denken und wofür viele Medien schon seit Jahren hetzen. Auch Fidesz-Politiker hetzen, tun aber nichts. Und nun ist da eine neue revolutionäre Generation, die sagt, wir wollen endlich mal ausführen, wozu uns unsere Väter motiviert haben. Der Journalist Attila Bujak hat in der Vergangenheit bereits die These aufgeworfen, dass Jobbik von Fidesz erfunden worden sei. Er schrieb, nach den verlorenen Wahlen 2002 hätte der ehemalige Kanzleramtsminister István Stumpf verlauten lassen, dass Fidesz eine kleine Partei benötige, die sich traut, das an- und auszusprechen, was die Partei nicht „laut“ sagen kann. Weil Fidesz ja eine „seriöse Partei“ bleiben wolle. Viktor Orbán [Vorsitzender der Partei Fidesz – Ungarischer Bürgerbund und seit Mai 2010 zum zweiten Mal Ministerpräsident von Ungarn, Anm. d Red.] gründete nach der Wahlniederlage so genannte Bürgerkreise, zu denen auch Gábor Vona eingeladen wurde. Orbán ist also sozusagen der Ziehvater des heutigen Parteivorsitzenden der Jobbik. Vona war damals noch Student und gehörte in die christlich-studentische Vereinigung der Universität. Bisher war es auch eher so, dass niemand Jobbik als eine rechtsradikale Partei betrachtet hat. Bei den letzten Kommunalwahlen wurde häufig auf lokaler Ebene mit Jobbik koaliert. Erst im Vorfeld der Wahlen 2010 ging man auf Distanz.

Hat es Die Europäische Union seit der Wendezeit versäumt, den neuen Demokratien in Zentral- und Osteuropa unter die Arme zu greifen?

Es ist ein absolutes Versäumnis der Europäischen Union, dass die Kulturpolitik in nationaler Hand blieb und dass es bis heute keine europäische Kultur- und Gedenkpolitik gibt. Da muss man nur in die Slowakei schauen, wo das so genannte Patriotismus-Gesetz verabschiedet wurde. Auch in Rumänien oder Polen gibt es ähnlich völkische Tendenzen. Es existiert ein mentaler Graben zwischen West und Ost. Von Europa hätte man einen Kulturdialog auf struktureller Ebene erwartet. Was heißt der Begriff „Nation“ zum Beispiel? Es wäre von Vorteil gewesen, den politischen Nationsbegriff nahezulegen anstatt diese Länder im Sumpf des ethnischen Nationsbegriffs zu belassen. Beide Seiten haben von Kulturpolitik gesprochen und etwas anderes gemeint. In Ungarn meinte man „völkisch und magyarisch“, im Westen „Demokratie“.

In den Köpfen der Ungarn ist Trianon [Der Friedensvertrag von Trianon, einer der Pariser Vorortverträge, die den Ersten Weltkrieg formal beendetenUngarn musste damit völkerrechtlich verbindlich zur Kenntnis nehmen, dass zwei Drittel des Territoriums des historischen Königreichs Nachbar- und Nachfolgestaaten zufielen. Die ungarische Delegation unterschrieb den Vertrag unter Widerspruch am 4. Juni 1920. Anm. d Red.] bis heute ein Schock, und das war vor 90 Jahren. Bis heute fangen Leute deswegen noch an zu weinen. Auch wird eine sozialistische Gesellschaft nicht von einem auf den anderen Tag demokratisch – man hat den Markt rein gelassen, aber man hat die Interessengemeinschaften nicht stabilisiert. Und diese wehren sich nun ethnisch. Das ist ein Rückgriff auf altbekannte Strukturen frei nach dem Motto „wir als Magyaren müssen uns verteidigen“. Sie haben Demokratie nie gelernt. Dass den neuen EU-Ländern dabei nicht unter die Arme gegriffen wurde, ist eine richtige Sünde von der Europäischen Union.

In Zusammenarbeit mit cafebabel.com, dem ersten mehrsprachigen Online-Europamagazin

Magdalena Marsovszky
deutsch-ungarische Kulturwissenschaftlerin mit den Schwerpunktthemen Antisemitismus und Rechtsextremismus in Ungarn


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März 2010 (aktualisiert November 2013)

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