Gemischtes Doppel | Visegrád 4

Knastbetten für Obdachlose

Illustration: © Ulrike Zöllner

#18 | UNGARN

Das ungarische Grundgesetz verbietet es, „sich als Lebenstil auf öffentlichen Plätzen aufzuhalten“. Anders ausgedrückt: Es ist verboten, obdachlos zu sein. Angesichts systematischer Unmenschlichkeit hilft nur Aktionismus, meint Márton Gergely.

Liebe Monika, liebe Tereza, lieber Michal,

letzte Woche hat Tereza treffend beschrieben, wie alle, die sich eine progressive Stadt wünschen und bereit sind, auch etwas dafür zu tun, als Aktivisten verschrien werden. Die Prager haben vor paar Tagen eine neue Stadtverwaltung gewählt, die Bürger von Budapest kommen erst in einem Jahr in diesen „Genuss“. Aber der Wahlkampf wirft jetzt schon seine Schatten voraus und zeigt seine hässliche Fratze. Die Kampagne fing diese Woche an und ist furchtbar zynisch. Im Sommer hatte das Parlament die Verfassung geändert, seitdem verbietet das Grundgesetz, „sich als Lebensstil an öffentlichen Räumen aufzuhalten". Einfacher gesagt: Es ist verboten, obdachlos zu sein.

Seit Montag sind die Verordnungen zur Durchsetzung des Verbots in Kraft, jetzt wird hart durchgegriffen. Wer also innerhalb von 90 Tagen schon dreimal von der Polizei aufgefordert wurde, den öffentlichen Raum zu verlassen, bekommt Ärger. Eine Ordnungswidrigkeit wird festgestellt, die Habseligkeiten können beschlagnahmt und zerstört werden, ein Bußgeld ist zu zahlen. Wer letzteres nicht begleichen kann, wird zu gemeinnütziger Arbeit verdonnert oder wandert hinter Gitter.

Wundern können wir uns über diese soziale Kälte nicht mehr.

Zuletzt haben die Zuständigen die Regeln noch mal verschärft. So kann die Polizei jetzt auch persönliche Gegenstände vernichten, die sie nicht aufbewahren will. Darunter fallen unter Umständen auch Arzneimittel, Familienfotos oder Dokumente. Eine spätere Entschädigung wird per Verordnung ausgeschlossen.

Die Regierung behauptet, es gäbe genügend Betten in den Obdachlosenheimen des Landes. Um die 11.000 Menschen könnten des Nachts Schutz vor Kälte finden. Das Kabinett bewilligte nochmal eine Million Euro, um die Verpflegung zu verbessern. Sozialarbeiter behaupten dagegen, die Zahl der ungarischen Obdachlosen sei dreimal höher. Das wären ca. 30.000 Menschen. Menschen, die unmöglich alle ein Bett für sich finden können und die stattdessen per Gesetz kriminalisiert werden.

Die ungarischen Ordnungshüter warten aber gar nicht auf verlässliche Zahlen, denn sie haben klare Anweisungen, die Obdachlosen aus der Budapester Innenstadt zu verdrängen. Als Geschenk für das herzlose Wahlvolk soll das harte Durchgreifen dienen. Die Unterführungen werden von den ärmsten Mitmenschen gesäubert, so kann die ausgeputzte Fassade der ungarischen Hauptstadt noch heller erstrahlen. Der Preis, den sie für den schönen Schein zahlen, kümmert die Machthaber nicht.

Wundern können wir uns über diese soziale Kälte nicht mehr. Schon als Viktor Orbán zum ersten Mal die verfassungsgebende Mehrheit errang, begannen seine Mitstreiter und er, Obdachlose zu drangsalieren. Das war im Dezember 2010. Wohnungslose wurden von den Straßen vertrieben, ein Budapester Bezirk stellte es unter Strafe, im Müll nach Verwertbarem zu suchen. Auch vor den Kommunalwahlen 2014 setzte das Regime seine Schikanen fort – wieder gab es große Razzien gegen Obdachlose.

Die Sozialarbeiter erinnern sich noch an die monatelangen Repressalien, die die Wohnungslosen zu erdulden hatten. Dann waren die Wahlen gewonnen – und gültige Gesetze wurden wieder außer Acht gelassen. Heute, vier Jahre später, würde es immer noch ausreichen, die ohnehin restriktiven und menschenfeindlichen Vorschriften einzuhalten. Aber das war Orbán zu wenig. Lieber wollte er mal wieder als Macher dastehen: Also ließ er die Verfassung ändern.

Es gibt keine Programme, die Schwächsten der Gesellschaft zu schützen.

Vielleicht fragen sich einige Leser aus Deutschland, mit welchen sozialen Programmen das harte Durchgreifen des Staats kompensiert wird? Traurige Antwort: Gar keine! Es ist nicht so, dass es zwar verboten wäre, obdachlos zu sein, die Bürger aber im Gegenzug ein Recht auf ein Dach über dem Kopf bekämen; oder, dass die Stadt Budapest Sozialwohnungen bauen, oder die Mietpreise irgendwie regulieren würde. In einigen Budapester Bezirken sind die Preise in den letzten 5 Jahren um 250 Prozent gestiegen. Trotzdem gibt es keine Programme, die Schwächsten der Gesellschaft zu schützen. Die Vollstrecker dieses inhumanen Systems setzen täglich Familien auf die Straße, die so tief verschuldet sind, dass sie alleine nicht mehr herausfinden. Der Staat schaut dabei zu – und schafft die gesetzlichen Rahmenbedingungen.

Und was macht dieser Tage allen Ernstes der ungarische Rechnungshof? Ich fasse es nicht, er überprüft jene Stiftungen, die sich um Obdachlose kümmern – ohne Voranmeldung versteht sich.

Der Zufall wollte es so, aber auch ich arbeite in diesen Tagen mit einer der wichtigsten Stiftungen in Ungarn zusammen. Menhely Alapítvány gibt nämlich die Obdachlosenzeitung Fedél Nélkül heraus und uns verbindet seit Oktober 2016 ein Projekt, auf das ich stolzer nicht sein könnte. Damals wurde meine Zeitung Népszabadság im Zuge einer feindlichen Übernahme des Verlagshauses durch einen Oligarchen eingestellt. Die ganze Redaktion stand plötzlich auf der Straße. Viele Chefredakteure boten uns in dieser schwierigen Zeit an, in ihren Zeitungen zu publizieren, damit wir uns verabschieden können. Wir haben dankend abgelehnt.

Die ehemalige Redaktion von Népszabadság hat sich entschieden, meinem Vorschlag zu folgen, und eine Beilage für die Budapester Obdachlosenzeitung zu produzieren. Wir wollten die üblichen Inhalte nicht verdrängen, wir wollten gleichberechtigt mit den Menschen zusammenarbeiten, die Fedél Nélkül herausgeben. Die Mitarbeiter der Zeitung sind Sozialarbeiter, die Reporter der Zeitung oft selbst obdachlos. Die gekündigten Kollegen von Népszabadságspendeten Geld, damit wir für die Zusatzkosten aufkommen konnten. Am Ende musste die Ausgabe nachgedruckt werden. Statt der üblichen 8.000 wurden damals 37.000 Exemplare verkauft.

Seitdem wiederholen wir diese Zusammenarbeit immer vor dem Nationalfeiertag am 23. Oktober zu Ehren der Revolution von 1956. Dieses Mal schreiben wir über unsere privaten Helden, und Sie, liebe Leserinnen und Leser, liebe Monika, liebe Tereza, lieber Michal, bekommen hier einen ersten Einblick von der Titelseite der nächsten Ausgabe:

Titelseite der noch unveröffentlichten Ausgabe der Budapester Obdachlosenzeitung „Fedél Nélkül“. Die Buchstaben „NEP“ bedeuten „Volk“ und sind gleichzeitig eine Referenz an die Zeitung „Népszabadság“, die am 9. Oktober 2016 putschartig geschlossen wurde und sich mittlerweile in Besitz des Orbán-Intimus und ungarischen Super-Oligarchen Lörincz Mészáros befindet.

Falls Sie die Chance haben, kaufen Sie in den nächsten zwei Wochen eine Zeitung in Budapest. Sie können das Blatt aber auch online bestellen, oder einfach an die Stiftung spenden.

Im Auge der Unmenschlichkeit hilft manchmal nur Aktionismus. In Prag kann das Kompostieren oder Radfahren sein, in Budapest die Unterstützung von Obdachlosen. Es hat keinen Sinn, auf die Menschen zu warten, die eigentlich für unsere Belange verantwortlich sind. Wir sind die Volksvertreter.

Márton Gergely
17. Oktober 2018
Copyright: ostpol.de | n-ost e.V.


Gemischtes Doppel #17 | Tschechien
Den Kompost ins Rathaus!
Gemischtes Doppel #19 | Polen
Zivilgesellschaft noch nicht am Ende


Im Gemischten Doppel halten Michal Hvorecký (Slowakei), Tereza Semotamová (Tschechien), Márton Gergely (Ungarn) und Monika Sieradzká (Polen) im wöchentlichen Wechsel die Diskurse ihrer Länder fest. Sie ergründen Themen wie die heutige Bedeutung Europas, Rechtspopulismus, nationale Souveränität, gesellschaftlichen Wandel, die Arroganz des westlichen Blicks – und brechen damit staatliche und gedankliche Grenzen auf.

Die Goethe-Institute in Polen, Tschechien und das Onlinemagazin jádu veröffentlichen die Beiträge der Kolumnenreihe mit freundlicher Genehmigung und in Kooperation mit ostpol, dem Online-Magazin von n-ost – Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung e.V.

    Márton Gergely

    Márton Gergely (*1976) ist ein ungarischer Journalist. Er studierte in Budapest und Hamburg Medienwissenschaften und Geschichte, war Praktikant bei der taz in Berlin und schrieb für die Wochenzeitung Magyar Narancs. Er arbeitete 12 Jahre lang für Népszabadság, die auflagenstärkste Tageszeitung Ungarns, war zeitweise Online-Chef und zum Schluss stellvertretender Chefredakteur. Er erlebte in dieser Position wie das Blatt im Oktober 2016 im Zuge einer feindlichen Übernahme eingestellt worden ist. Seit 2017 arbeitet er für HVG und ist dort zuständig für den Bereich Politik.

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