Religion auf Abruf

Foto: Isabelle Daniel

Willkommen im Gebetomat

Foto: © Oliver Sturm
Der Erfinder Oliver Sturm vor seinem Gebetomaten, Foto: © Oliver Sturm

Es geht tatsächlich eine beruhigende Wirkung von der leisen Musik aus, die im Gebetomat zu hören ist. Zieht man den Vorhang dieses Gerätes, das wie eine Mischung aus Passfoto-Automat und Beichtstuhl aussieht, zu, verflüchtigt sich sogar die naturgemäß trubelhafte Geräuschkulisse in der Arminius-Zunfthalle.

In dieser Markthalle mitten in Berlin-Moabit steht einer von drei Gebetomaten, die der Künstler Oliver Sturm im Jahr 2008 konzipiert hat. Einen weiteren Automaten zum Beten gibt es seit kurzem im englischen Manchester, der analog zum deutschen Originalnamen Pray-O-Mat heißt.

Beten per Touchscreen

Meint er es ernst oder nicht? Diese Frage stellt sich zwangsläufig demjenigen, der sich in den winzigen Raum zwängt, um per Touchscreen zu wählen zwischen Gebeten der fünf Weltreligionen sowie weiteren Glaubensrichtungen – darunter beispielsweise der kubanischen Voodoo-Konfession Caidije-Lekosia und Scientology. 320 Gebete in 65 Sprachen stehen zur Verfügung, wobei die christliche Abteilung, samt ihrer zahlreichen orthodoxen Zweige und protestantischen Freikirchen, das umfangreichste Angebot an Gebeten enthält.

Soll dieser enge rote Kasten eine Dienstleistung sein, ein zeitgemäßer Rückzugsort für spirituell Bedürftige? Oder will der Erfinder mit seiner Schöpfung Kritik üben – an der Technikversessenheit der „digital natives“, dem Überangebot im Zeitalter der Globalisierung, gar an religiöser Beliebigkeit?

Oliver Sturm hört solche Fragen oft. Journalisten gegenüber beantwortet er sie durchaus unterschiedlich. „Die Wahrheit ist: Ich weiß es nicht“, sagt er und fragt rhetorisch: „Ist der Gebetomat ein kritischer Kommentar zu den Perversionen der Automatisierung, ist es ein Beitrag zur Aufklärung über die Vielfalt des Betens, ist es ein Ausrufezeichen an die dahineilenden Menschen, die innere Einkehr nicht zu vergessen, ist es der krampfhafte Versuch, berühmt zu werden oder will der Erfinder einfach nur Geld verdienen? Vielleicht ist es alles zusammen.“

Von Andy Warhol inspiriert

Zunächst „zweckfrei“ sei die künstlerische Idee gewesen, die hinter den Gebetomaten steckt, erklärt Sturm. Erstmals entstanden war sie 1999 in New York, wo der Hörspiel- und Theaterregisseur an einem Literaturprojekt arbeitete. Auf seinem Weg nach Williamsburg, einem stark jüdisch-orthodox geprägten Teil Brooklyns, hatte Sturm eine Begegnung, die in seiner Schilderung fast mystisch klingt: In einer besonders „dunklen, siffigen Ecke“ der Metrostation, an der er umsteigen musste, habe ein „Automat älteren Datums“ gehangen. „Daraus ertönte eine Frauenstimme. Ich konnte weder das, was sie sagte, noch die Funktion des Automaten verstehen. Auf mich wirkte er aber wie eine Art Orakel und ich dachte: Eigentlich müsste es an dieser verlorenen Ecke Gebete auf Abruf geben – für die typische New Yorker Mischung an Leuten, die sich an dieser U-Bahn-Station aufhält.“

Foto: © Oliver Sturm
Ein Kaltgetränk... oder doch lieber ein Gebet? Der Pray-O-Mat in Manchester, Foto: © Oliver Sturm

Am Anfang habe die Idee einen gewissen ironischen Charakter gehabt, erklärt der Künstler. „Nachträglich habe ich festgestellt, dass sie im Geist von Andy Warhol steht. Das war aber keine absichtliche Intention. Ich dachte ja nicht: Jetzt mache ich mal etwas gegen die Kapitalisierung von Religion.“

Suren für die Mittagspause

Tatsächlich beobachtet Sturm, dass sich die die Funktion des Gebetomaten je nach Kontext wandelt. „Mal ist er mehr Kunstobjekt, mal mehr Gebrauchsgegenstand“, interpretiert er sein eigenes Werk und erzählt etwa von der indonesischen Einwandererin, die ihm berichtete, sich während ihrer Mittagspause Suren im Gebetomat anzuhören. „Meine Beobachtung ist, dass ein Teil der Nutzer eher sein eigenes Bekenntnis wiederfinden möchte. Das trifft vor allem auf Migranten zu. Währenddessen scheint das deutsche Publikum eher neugierig zu sein, wie und was man in anderen Religionen betet.“

Und so funktioniert es.

Gerade dieser Informationswert habe ihn selbst dazu gebracht, seinen ursprünglich ironischen Ansatz zu differenzieren. „Es war bei der Arbeit wirklich toll, zu sehen, wie viele Menschen durch ihren Glauben eine Geborgenheit in einer der Gemeinschaften haben, so einsam sie sonst auch sind. Und dann ist der aufklärerische Aspekt – zu wissen, wie wo gebetet wird – für mich immer wichtiger geworden. Das hat etwas Ent-Radikalisierendes. Und für manche bietet der Automat doch auch eine spirituelle Erfahrung“, lautet Sturms Zwischenbilanz.

Der Informationsgehalt soll überdies weiter wachsen: Sturm will das Archiv hinter dem Touchscreen erweitern – „vor allem das Judentum und der Islam sind noch zu wenig abgebildet“. Eines ist dem Künstler dabei besonders wichtig: „Die Gebete sind allesamt von gläubigen Menschen gesprochen.“ Das gehört zum differenzierten Konzept des Gebetomaten, der eben auch ernst genommen werden soll.

Isabelle Daniel

Copyright: Goethe-Institut Prag
Juni 2012

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