Migrant gleich Muslim?

Foto: re:publica | Gregor Fischer, CC BY 2.0Foto: re:publica | Gregor Fischer, CC BY 2.0
Betül Ulusoy und Riem Spielhaus (rechts im Hintergrund) diskutieren auf der re:publica 2015 am 07.05.2015 in Berlin. Foto: re:publica | Gregor Fischer, CC BY 2.0

Dass für Muslime generell ein Integrationsbedarf angenommen wird, stört die Islamwissenschaftlerin Dr. Riem Spielhaus (41). Schon seit einiger Zeit betrachten Forschung, Medien und Politik den Islam nicht mehr nur als Religionszugehörigkeit, sondern beinahe ausschließlich in Verbindung mit Fragen zur Sicherheitspolitik und Integration. Warum diese Entwicklung bedenklich ist, legt Riem Spielhaus in zahlreichen Publikationen dar.

Ihre Dissertation Wer ist hier Muslim? wurde 2010 mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für interkulturelle Studien ausgezeichnet. Sie forscht zum gegenwärtigen Islam in Europa und interessiert sich dabei zum Beispiel auch für die Themen weibliche Autorität sowie Comedy. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt Universität zu Berlin, an der Universität Kopenhagen und forscht seit 2012 an der Universität Erlangen. jádu-Autorin Maike Wetzel hat mit Dr. Riem Spielhaus gesprochen.

Als Islamwissenschaftlerin müssen Sie wahrscheinlich häufig zum Thema „Integration“ Auskunft geben. Warum ist das Ihrer Meinung nach so?

Muslime werden generell als Migranten wahrgenommen. Das ist ein Stück weit verständlich, weil viele in ihrer Familiengeschichte einen Migrationshintergrund haben. Aber diese verkürzte Darstellung unterschlägt die Konvertiten und spricht den mittlerweile Deutschen muslimischen Glaubens die Zugehörigkeit zur hiesigen Gesellschaft ab. Muslime sind nicht zwingend „Ausländer“, ja nicht einmal unbedingt Migranten und schon gar keine homogene Gruppe. Es gibt große ethnische, kulturelle und religiöse Unterschiede unter den Muslimen. Der Kurzschluss „Migrant gleich Muslim“ entbehrt dabei jeder statistischen Grundlage: Die Mehrheit der Migranten in Deutschland stammt aus nichtmuslimischen Ländern. Außerdem stellt der Islam eine Religion dar und ist, wie etwa Buddhismus, Hinduismus oder auch Christentum, an keine bestimmte Nationalität gebunden. Wenn jemand aus dem Iran kommt, heißt das eben nicht automatisch, dass er Muslim ist. Knapp über die Hälfte der aus dem Iran stammenden Befragten sagte in einer 2009 veröffentlichten repräsentativen Studie von sich selbst, dass sie gar keine Muslime seien.

Was ist denn dran an der immer wiederkehrenden Annahme „die Muslime“ seien nicht integrationswillig?

Meiner Meinung nach hat diese Frage wenig mit der Realität „der Muslime“ und sehr viel mehr mit der Weltsicht der Fragenden zu tun. Allein die Frage, ob Muslime sich integrieren wollen, unterstellt, dass sie es potentiell nicht sind. Ihre Religionszugehörigkeit allein – nicht wie lange sie hier leben, wie viel sie verdienen oder ob sie studiert haben – ist Grund für die Annahme, man müsste bei ihnen prüfen, ob sie integriert sind. Dadurch wird ihre Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft unter Vorbehalt gestellt. Man könnte die inzwischen durch zahlreiche Studien belegte islamskeptische Haltung sogar so deuten, dass ein sehr hoher Bevölkerungsanteil gar nicht wahrhaben will, dass Muslime sich integrieren.

Neigen muslimische Migranten häufiger als andere zur Gewalt?

„Die Terrorakte zielen darauf ab, die Gesellschaft zu spalten, Muslime zu marginalisieren und sie damit leichter empfänglich für extremistische Ideologien zu machen.“

Wenn es um Radikalisierung geht, dann zeigen die Erhebungen der Sicherheitsbehörden, dass die größte Gefahr keineswegs von Einwanderern muslimischen Glaubens, sondern von Jugendlichen mit deutscher Staatsangehörigkeit ausgeht – von Konvertiten oder jedenfalls ursprünglich nicht islamisch sozialisierten oder gar gläubigen 15- bis 25-Jährigen. Diese Jugendlichen radikalisieren sich vor allem politisch und konvertieren in den Extremismus mehr noch als in den Islam. Es ist befremdlich, dass sich „die Muslime“ von Anschlägen des IS oder Al-Qaida distanzieren sollen. Aber genau darauf zielen die Terrorakte ab – die Gesellschaft zu spalten, Muslime zu marginalisieren und sie damit leichter empfänglich für extremistische Ideologien zu machen.

Im November 2015 führte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, als Grund für eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen an: „Viele der Flüchtlinge fliehen vor dem Terror des Islamischen Staates und wollen in Frieden und Freiheit leben, gleichzeitig aber entstammen sie Kulturen, in denen der Hass auf Juden und die Intoleranz ein fester Bestandteil ist“. Halten Sie das für richtig?

Wichtig finde ich, dass er deutlich darauf hingewiesen hat, dass diese Intoleranz nicht mit dem muslimischen Glauben zusammenhängt, sondern mit dem politischen Klima, zum Beispiel in Syrien. Auch wer in der DDR aufgewachsen ist, weiß, was Indoktrinierung bedeutet, musste diese aber nicht notwendigerweise teilen. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, wenn diese etwa in einer problematischen Haltung gegenüber Juden resultiert. Es scheint mir aber wichtiger, bestehende Probleme zu lösen als bestimmte Gruppen als Gegner zu markieren. So werden Missstände nicht beseitigt. Weltanschauliche Probleme werden sich auch nicht mit einer Begrenzung der Flüchtlingszahlen lösen lassen.

In Ihrer Forschung nennen Sie die zunehmende Betonung des Muslimseins „die Muslimisierung von Migranten“. Wie unterstützen etwa Medien und Forschung die Stereotypen zu Muslimen?

Zur Bebilderung von Medienberichten über „Integration“ gibt es inzwischen sehr aufschlussreiche Untersuchungen: Kopftuchträgerinnen zum Beispiel werden in Zeitungsfotos weitgehend pauschal als Migrantinnen und „integrationsbedürftig“ dargestellt. Interessant ist auch, wie die Zeitungen berichteten, als mit Cem Özdemir 1994 „der erste gebürtige Türke im Deutschen Bundestag“ saß. Als dagegen 2010 Aygül Özkan Sozialministerin in Niedersachsen wurde, hoben die Medien ihre Religion, den Islam, hervor. „Hilfe! Diese Muslima ist gar keine Christin“ titelte etwa Die Welt.

„Der angenommene Zusammenhang zwischen ,Muslim‘ und ,Sicherheitsrisiko‘ prägt die öffentliche Wahrnehmung und wirkt dann auch wieder in die Wissenschaft hinein.“

Aber auch in der Forschung zu Muslimen verengt sich der Blick: Bezuschusst werden zunehmend Vorhaben, die sich mit den Feldern Sicherheit und Integration befassen. Der angenommene Zusammenhang zwischen „Muslim“ und „Sicherheitsrisiko“ pflanzt sich so in den Köpfen fort. Das prägt die öffentliche Wahrnehmung und wirkt dann auch wieder in die Wissenschaft hinein, wenn es Forschenden nicht gelingt, sich von Vorurteilen und den Rahmungen der Debatten frei zu machen.

Wie kann diese einseitige Wahrnehmung verändert werden?

Wir alle müssen anfangen, die Zusammenhänge zwischen Begrifflichkeiten zu hinterfragen. Egal, ob im Unterricht, im Fernsehen, in der Politik und Wissenschaft. Öffentliche Debatten, wie die zur Trennung zwischen der Deutschen Islamkonferenz und dem Integrationsgipfel zum Beispiel, sind sinnvoll. Nur so kann klar werden, dass die Begriffe „Muslim“ und „Migrant“ nicht deckungsgleich sind und auch andere Zusammenhänge differenzierter betrachtet werden. Aber das muss man dann auch durchhalten. Gelingen kann das nur, wenn wir uns die Mechanismen der Wahrnehmung bewusst gemacht haben.

In einer Studie haben Sie 2012 europaweit fünfzig verschiedene quantitative Erhebungen über Muslime verglichen. Was haben Sie darin festgestellt und gilt das bis heute? Welche Auswirkungen haben Phänomene wie Pegida oder die Terroranschläge in Paris?

Die Kategorie „Muslim“ etablierte sich seit dem Jahr 2000 in der Forschung. Die meisten Studien betonen jetzt die Themen Radikalisierung, Sicherheit und Integration. Religiöse Praxis wird fast ausschließlich an sichtbaren Zeichen festgemacht – Kopftuch, Fasten, in die Moschee gehen… Der Wissenschaftsbetrieb spiegelt so die öffentliche Wahrnehmung von Muslimen in Europa wider: Sie kreist fast ausschließlich um Andersartigkeit und Sichtbarkeit. Die in solchen Erhebungen produzierten Zahlen werden von Medien und Politik dankbar aufgegriffen und plötzlich scheint mehr Wissen über diese unbekannte und Besorgnis erregende Gruppe zu bestehen. Offenbar ist der Wissensdurst jedoch kaum zu stillen. Eine Studie hat vielmehr die nächste zur Folge und die konkreten Antworten, die Meinungen, die Probleme und Sorgen der muslimischen Befragten scheinen zweitrangig zu sein.

„Die sechs Prozent unter den Muslimen, die Gewalt befürworten, entsprechen ziemlich genau dem totalitär denkenden Anteil in der übrigen Bevölkerung.“

Muslime müssen inzwischen ständig Stellung beziehen und werden zu einer riesigen Zahlenmaschine. Dass 94 Prozent der Befragten Gewalt im Namen der Religion ablehnen, wird dann unwichtig. Die sechs Prozent unter den Muslimen, die Gewalt befürworten, entsprechen übrigens ziemlich genau dem totalitär denkenden Anteil in der übrigen Bevölkerung. Aber genau diese Zahl kommt dann in die Schlagzeilen. Da verwundert es nicht weiter, dass so manch einer Angst vor Muslimen hat.

Was lehrt der Islam in Bezug auf Andersgläubige? Ruft er zur Intoleranz auf?

Im Koran und den Überlieferungen des Propheten Muhammad gibt es viele Aussagen, die für die Anerkennung des Pluralismus plädieren. Und aus dieser Anerkennung wird in der islamischen Geistesgeschichte eine Ethik abgeleitet, die andere Meinungen und Auffassungen zulässt und als Reichtum begreift. Aber ich finde viel wichtiger noch, was die Muslime einander lehren, wie sie miteinander umgehen und den Islam leben. Gerade in muslimischen Gemeinden in Deutschland treffe ich auf Wertschätzung für Vielfalt, auch wenn hin und wieder ein Streit über die Deutung von Koranversen aufkommt. Aber Schiiten und Sunniten beispielsweise begegnen einander hier mit Respekt und vertreten vielerorts gemeinsam ihre Interessen gegenüber Politik und Verwaltung. Diese gelebte, gegenseitige Akzeptanz torpedieren extremistische Strömungen, die meinen, nur ihr Verständnis des Korans und anderer religiöser islamischer Texte sei richtig.

Das Interview führte Maike Wetzel.

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Januar 2016

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