Die Worthülse „Integration“ mit Leben füllen

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Feldforschung im italienischen Brescia: Laura Günther mit Diallo aus Guinea, Foto: © privat

Laura Günther schreibt in Halle (Saale) ihre Masterarbeit über inner-EU-Mobilität von westafrikanischen Migrant*innen. In ihrem Nebenjob unterrichtet sie in sogenannten Integrationskursen Deutsch für Flüchtlinge aus Syrien.

Kannst du kurz zusammenfassen, worum es in deiner Masterarbeit geht?

Bisher wurde angenommen, dass Migranten aus westafrikanischen Ländern auf irreguläre Weise in die „Festung Europa“ kommen und sich anschließend an einem bestimmten Ort fest niederlassen. Diese Vorstellung von Sesshaftigkeit mag zwar zu unseren Lebensvorstellungen passen, jedoch ist Migration alles andere als ein linearer Prozess mit einer klar angestrebten Destination. Migration ist gar nicht so zielorientiert, wie wir es glauben. Es ist vielmehr ein Ausprobieren und Pausieren, Schulden und Risiken auf sich nehmen.

„Für uns EU-Bürger*innen ist Mobilität fast schon eine Ideologie, jedoch dämonisieren wir sie für Nicht-EU-Bürger*innen.“

Ich habe während meiner viermonatigen Feldforschung in Norditalien und Süddeutschland festgestellt, dass es migrantische Ökonomien und Netzwerke gibt, die Migrationsprozesse innerhalb der EU beeinflussen. Viele Migrant*innen würden gerne einfach mehr von Europa entdecken, es gibt eine Abenteuerlust, eine Kultur des Unterwegsseins, die jedoch von politischer Seite nicht gewährleistet wird. Ein Migrant, der von Italien aus einfach mal Deutschland bereisen will, kommt hier sofort ins Asylsystem. Für uns EU-Bürger*innen ist Mobilität fast schon eine Ideologie, jedoch dämonisieren wir sie für Nicht-EU-Bürger*innen.

Gab es bei deiner Forschung Berührungspunkte zum Thema Integration?

Natürlich tauschte ich mich viel über Alltags- und Grenzerfahrungen aus – im wahrsten Sinne des Wortes. Da gilt es, feinfühlig zu sein. Auf individueller Ebene ist es weniger politisch aufgeladen und es geht nicht so sehr um Rechte und Pflichten. Das sind einfach Erzählungen, die immer wieder kommen und stark mit Alltagserfahrungen verknüpft sind.

Wie stellen sich die Menschen, die du interviewt hast, ihre Integration vor? Beschäftigt sie das Thema?

Für viele meiner Interviewpartner*innen bedeutet Integration: Kontakt mit den Menschen in der neuen Lebensumgebung aufzubauen, aber auch das Erkunden einer Stadt zum Beispiel, oder das Mitspielen in einem lokalen Fußballverein. Aber auch das Erlernen der Sprache ist für viele ein ganz entscheidender Integrationsschritt. Ich war oft erstaunt, wie schnell Geflüchtete und Migrant*innen Sprachen lernen.

Gleichzeitig sind sehr viele Migrant*innen frustriert, dass sie nicht arbeiten dürfen. Gerade hierin sehen sie eine Chance der Integration, eine Möglichkeit, sich einzubringen. Außerdem würde Arbeit bedeuten, und das ist glaube ich der entscheidende Punkt, einen Sinn in einem bürokratisierten, vermeintlich sinnentleerten Alltag zu schaffen. In Italien ist das Arbeiten oftmals leichter als in Deutschland, da es mehr afrikanische Läden und Restaurants gibt, wo man auch mal kurzzeitig mitanpacken kann. Hier wird die Integration dann als leichter gesehen.

Und wie sieht es mit deinen Schüler*innen in den Integrationskursen aus?

Meine Schüler*innen kommen fast alle aus Syrien, da ist die Situation etwas anders. Hier ist die Integration politischer gewollter. Ansonsten würden sie nicht den entsprechenden „Integrationskurs“ besuchen können. Ihre Aussicht, in Halle bleiben zu können, ist aus diesem Grunde viel höher, wodurch ein sehr großes Interesse an „Integrationsmöglichkeiten“ besteht. Teilweise werde ich hier mit Fragen überhäuft, was man wo und wie machen kann. Sie haben ein sehr großes Interesse an der deutschen Sprache, sind Vereinen beigetreten oder in Kirchengemeinden aktiv. Viele haben sich auch eine Art Gasthörerschaft an der Universität organisiert – unter meinen Schüler*innen sind zum Beispiel Bauingenieure, Ärzte und Zahntechniker.

Was heißt denn Integrationskurs – geht es da nur um Sprache, oder was vermittelst du ihnen noch?

„Wer Assimilation statt Integration fordert, sollte einfach mal auf Migrant*innen offen zugehen. Der Blick auf Unterschiede wandelt sich dabei oft zu einem Blick auf Gemeinsamkeiten.“

Die Sprachvermittlung steht auf jeden Fall im Vordergrund. Als Honorarkraft bin ich relativ frei in meiner Unterrichtsgestaltung. So schaue ich, dass ich die Sprachvermittlung an praktischen Beispielen orientiere, die Schüler*innen selber früh Dialoge führen können und ich liefere auch immer wieder Informationen zum Leben in Halle. Zum Beispiel habe ich ihnen nützliche Links zusammengestellt oder von „Flüchtlingstreffen“ und Austauschmöglichkeiten, aber auch von Shishabars und netten Cafés erzählt.

Kürzlich habe ich einen Text zur Adventszeit in Deutschland für sie geschrieben. Da ging es mir auch um gegenseitigen Austausch und kulturelles Verständnis, da wir zum Beispiel auch über Weihnachten in Eritrea und Syrien sprachen. Ich versuche auch etwas „Normalität“ zu vermitteln, da viele sehr große Sorge haben wegen ihrer Familie in Syrien, deren Fotos mir auch immer öfter gezeigt werden.

Erkennst du Schwierigkeiten oder Knackpunkte bei der Integration?

Ich finde, dass bei den meisten ein so großes Interesse da ist, dass ich zunächst gar kein Integrationsproblem sehe. Ein großes Problem sehe ich jedoch in der deutschen Bürokratie und in den Alltagshürden. Sehr oft fehlen Schüler*innen, weil sie sich um ihre Wohnungen kümmern, zum Sozialamt oder zur Ausländerbehörde müssen.

Welche Meinung hast du zum Begriff der "Integration", wie das Wort üblicherweise verwendet wird?

Erstmal ist Integration eine leere Worthülse, sie muss gelebt werden. Und dann herrscht glaube ich relativ schnell Konsens: Es geht um gegenseitiges Interesse und Austausch. Bedauerlicherweise wird meistens sehr stark auf die Integration von denen in unsere Gesellschaft geschaut. Das würde aber in die Assimilationsrichtung gehen. Und das finde ich keine schöne Vorstellung, das klingt eher nach einer Vernichtung von kulturellen Differenzen. Ich finde es absurd zu denken, dass unsere Kultur einen höheren Wert hätte.

Und ich finde, wer Assimilation statt Integration fordert, sollte einfach mal auf Migrant*innen und Flüchtlinge offen zugehen und sehen, was man von ihnen lernen und von der Welt erfahren kann. Der Blick auf die Unterschiede wandelt sich dabei oft zu einem Blick auf Gemeinsamkeiten. Ich finde es schön zu sehen, dass so viele Menschen in Halle offen sind und zu gemeinsamen Treffen kommen. Dabei will ich keine Probleme verneinen. So sind zum Beispiel Flüchtlinge aus Afghanistan insofern weniger privilegiert als Syrer*innen, da der Staat ihnen keine Integrationskurse bezahlt und sie aus diesem Grunde sicherlich größere Alltagsschwierigkeiten haben. Denn die geschaffenen Strukturen im Alltag wie tägliche Sprachkurse oder wöchentliche Treffen sind in meinen Augen sehr hilfreich für eine gelungene Integration.

Das Interview führte Christine Bertschi.

Copyright: jádu | Goethe-Institut Prag
Januar 2016

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