Nicht doof, nur dick

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Gisela Enders, Vorsitzende des Vereins Dicke e.V.: „Wir brauchen dringend eine Aufnahme von Körperformen ins Antidiskriminierungsgesetz.“ Foto: © privat

Von Alltagssituationen, in denen die Bedürfnisse dickerer Menschen einfach ausgeblendet werden über gehässige Kinderreime wie „dicke fette Arschboulette“ bis zu aggressiven Beleidigungen von wildfremden Menschen in der Öffentlichkeit. Gewichtsdiskriminierung wird in unserer Gesellschaft toleriert wie fast keine andere Form der Benachteiligung. Dagegen stellen sich immer mehr Vereine und Initiativen auch in Deutschland. Wie funktioniert ihre Arbeit und was bewirken sie?

„Vielleicht ist ein Bikini nicht das richtige für dich, wenn du über 100 Kilo wiegst?“

„Bitte zieh keine Leggins in der Öffentlichkeit an, wenn du mehr als 100 Kilogramm wiegst. Ekelhaft!“

„Sorry, wenn du über 100 Kilo wiegst, solltest du deinen fetten Arsch nicht in Leggins zwängen. Du wirst sie nicht mehr ausziehen können!“

Das sind noch nicht einmal die schlimmsten Kommentare, die die Amerikanerin Sara Petty unter ihre Bilder bekam, die sie auf Twitter in Hot Pants, Leggins, bauchfreien Tops und Bikini zeigen. Mit ihrer Aktion sorgte die 20-Jährige für Aufsehen in den sozialen Medien: Sie postete Fotos von sich in Klamotten, die laut einiger Twitter-User, „unangemessen für Frauen mit mehr als 100 Kilo Körpergewicht“ sind. Ihre Meinung dazu: „Girls: Wear whatever the hell you want“. “Mädchen: Tragt, verdammt nochmal, was ihr wollt“!

Neben vielen gehässigen Bemerkungen erntete die Studentin auch viel Unterstützung für ihre Aktion, mit der sie ein klares Zeichen gegen „Fat-Shaming“ setzt. Manche Kommentare klingen wie gut gemeinte Ratschläge, während andere tief unter die Gürtellinie gehen. Sie alle basieren auf den gleichen Vorstellungen: Dicke Menschen sind hässlich, dumm, verfressen und faul. Sie dürfen ihren Körper nicht in der Öffentlichkeit präsentieren und wenn doch, dann nur, wenn sie jede noch so gehässige Äußerung darüber hinnehmen. Dicke sind doch selber daran schuld, wie sie aussehen. Und wehe, sie versuchen nicht unter allen Umständen abzunehmen oder fühlen sich sogar noch wohl in ihrer Haut.

Fakten gegen Vorurteile

Gegen diese Stereotype stellt sich die „Fat-Acceptance-Bewegung“, die nach ihren Anfängen in den USA auch in Deutschland immer stärker wird. Ihre Anhängerinnen und Anhänger setzen sich für eine größere Akzeptanz dicker Menschen in der Gesellschaft ein und kämpfen gegen die verbreiteten Vorurteile, dass nur schlanke Körper gesund, schön und fit sein können.

Inspiriert von der National Association to Advance Fat Acceptance (NAAFA) gründete sich in Deutschland im Jahr 2005 die Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung, kurz GgG. Diese versteht sich als „Vereinigung von Menschen aller Kleidergrößen und Bauchumfänge, die aus ganz verschiedenen Gründen nicht einverstanden sind damit, wie unsere Gesellschaft mit dicken Menschen umgeht“. Eine Leipziger Studie belegte nun, dass die Benachteiligung mit dem Gewicht zunimmt. Bei schwerer Adipositas berichten fast 40 Prozent der Befragten von Diskriminierungserfahrungen. Bei den übergewichtigen Teilnehmern fällt auf, dass vor allem Frauen von Benachteiligung betroffen sind: 21 Prozent von ihnen klagen über Probleme, bei den Männern sind es nur acht Prozent. Das kann auch erklären, warum vor allem Frauen im Netz und in Initiativen für die Akzeptanz dicker Menschen aktiv sind. Ob lästernde Kollegen im Büro oder die schiefen Blicke der anderen im Restaurant, unangebrachte Kommentare der Modeverkäufer oder voreingenommene Ärzte. Probleme in alltäglichen Situationen, plötzliche Herabsetzungen oder Anfeindungen können das Auftreten in der Öffentlichkeit für dickere Menschen zu einem richtigen Spießrutenlauf machen.

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Natalie Rosenke: „Gewichtsdiskriminierung begegnet uns oft unter dem Deckmantel der gesundheitlichen Fürsorge.“ Foto: © Rolf Schulte

Nicht das Fett macht krank, sondern die Menschen

Bei der Arbeit gegen solche negativen Einstellungen sind „Aufklärung und Information“, die wichtigsten Standbeine, wie Natalie Rosenke, seit 2013 Vorsitzende der GgG, erklärt. „Da sie ein Bewusstsein für Gewichtsdiskriminierung schaffen und ihr damit den Nährboden entziehen.“ Denn als größtes Problem sieht sie „die Selbstverständlichkeit, mit der diese von der Gesellschaft akzeptiert und ausgeübt wird. Sie wird als notwendiger Motivator für eine Veränderung der Körperform betrachtet, wobei schlank mit gesund gleichgesetzt wird. Gewichtsdiskriminierung begegnet uns daher oft unter dem Deckmantel der gesundheitlichen Fürsorge, stellt aber durch den hierdurch verursachten Stress selbst eine deutliche Gefährdung der Gesundheit dar.“ Neue Studien legen nahe, dass dieser permanente psychosoziale Stress nicht nur Depressionen und Angststörungen fördert, sondern der dadurch ansteigende Cortisol-Spiegel im Blut selbst zu Übergewicht führen kann. Dieser stimuliert nämlich den Appetit, hemmt Sättigungsmechanismen und blockiert den Fettabbau. Es ist möglich, dass sogar Folgeerkrankungen wie Diabetes und Fettstoffwechselerkrankungen auf die negative Haltung gegenüber Dicken zurück zu führen sind.

Trotz dieser medizinischen Erkenntnisse machen viele dicke Menschen die Erfahrung, nicht einmal von einem Arzt ernst genommen zu werden. Voreingenommene Diagnosen, ungeeignete medizinische Hilfsmittel und eigene Ressentiments des Personals gegen Dicke führen immer wieder dazu, dass zum Beispiel Schilddrüsenfehlfunktionen oder Schwangerschaften unentdeckt bleiben und die Patienten ganz einfach nach Hause geschickt werden mit dem Rat ein paar Kilo abzunehmen, „dann regele sich das ganz von allein“.

So vielseitig die Situationen sein können, in denen Menschen aufgrund ihres Gewichts diskriminiert werden, so vielseitig sind die Hilfsangebote der GgG. Neben den selbst erarbeiteten Handlungsempfehlungen für Kliniken, Ärzte und medizinisches Personal und Hinweisen für die Presse zur Berichterstattung über Übergewicht und Adipositas, trägt die GgG vielseitige Informationen zu Forschungsergebnissen, internationalen Entwicklungen, Medienpräsenz ect. Zusammen. Rosenke: „ Um die Sicht der Gesellschaft auf dicke Menschen zu verändern, zeigen wir in den Medien Präsenz und setzen uns dafür ein, dass Gewichtsdiskriminierung Teil der politischen Diskussion wird.“

Dick in der Politik

Mit Erfolg? Auf dem Bundesparteitag der SPD im Dezember 2015 wurde Gewichtsdiskriminierung zum parteipolitischen Thema gemacht. Ziele sind unter anderem die BMI-Grenzen für Verbeamtungen abzuschaffen. Hochgewichtige Anwärter werden oft diskriminiert, weil ihr BMI-Wert angeblich etwas über ihre Krankheitsanfälligkeit oder körperliche Leistungsfähigkeit aussagt.

Auch Gisela Enders sieht die Politik in der Pflicht, sich eindeutig gegen die Diskriminierung von dicken Menschen zu positionieren. Sie ist Autorin des Ratgebers Wohl in meiner Haut und Vorsitzende des Vereins Dicke e.V. aus Berlin. „Wir brauchen dringend eine Aufnahme von Körperformen in die Liste der Merkmale, die im Antidiskriminierungsgesetz aufgeführt werden.“ So könne gegen Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt endlich rechtlich vorgegangen werden. Mit ihrer Arbeit setzt sie sich ebenfalls für die Akzeptanz dicker Menschen ein, vor allem dass Menschen sich selbst akzeptieren können, egal welche Körperform sie haben. „Wir haben Kurse, wie man sich mit jedem Gewicht im eigenen Körper wohl fühlen kann. Dabei machen wir auch deutlich, dass Diäten zu 95 Prozent zu einer Gewichtszunahme führen – langfristig gesehen. Hier stärken wir dicke Menschen darin, sich nicht durch Medien oder zahlreiche Diätfirmen negativ beeinflussen zu lassen.“

Austausch über Kleidergrößen hinweg

Neben Informationen und Beratungsmöglichkeiten bieten Vereine, Organisationen, Online-Foren, Blogs und alle anderen Initiativen natürlich immer die Möglichkeit sich untereinander zu vernetzen, auszutauschen und zu unterstützen. Wo kann ich schicke Mode in großen Größen kaufen? Welche Ärzte sind unvoreingenommen im Umgang mit hochgewichtigen Patienten? Welche Bücher und Filme gibt es zum Thema? Wie kann ich selber aktiv werden? Was kann ich gegen ungleiche Behandlung unternehmen?

Immer mehr Menschen nehmen diese Hilfe in Anspruch und setzten sich zur Wehr gegen alle, die behaupten, Dicke dürfen nur eins: abnehmen. Zwar ist der Erfolg dieser Initiativen schwer messbar, an einigen Stellen aber doch sichtbar. Natalie Rosenke von der GgG zählt dazu zum Beispiel die Auswirkungen im Bereich der Rechtsprechung, „wo sich unsere Argumente in verschiedenen Urteilen zur Verbeamtung wiederfinden und schlussendlich eine Beweisumkehr zu Gunsten der hochgewichtigen Anwärter bewirkt haben.“ Dazu kommt auch das positive Feedback, das sie unter anderem über Social Media erreicht.

Übrigens unterstützen nicht nur Dicke, also vermeintlich „Betroffene“, die Fat-Acceptance-Bewegung. Denn betroffen ist eigentlich jeder, der einen eigenen Körper besitzt: „Wer gemäß medizinischer Definition als "normalgewichtig" gilt, muss von der Gesellschaft keinesfalls so behandelt werden. Der BMI sagt schließlich nichts über die Verteilung aus. Gesellschaftlich als schlank betrachtete Menschen kennen den Druck schlank bleiben zu müssen“, erklärt Natalie Rosenke. „Für unsere Kritik an der allgegenwärtigen Warenprüfung unseres Körpers erfahren wir daher über alle Gewichtsklassen hinweg viel Zuspruch.“

Anne Weißbach

Copyright: jádu | Goethe-Institut Prag
April 2016
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Body Mass Index (BMI)

Der Body Mass Index ist ein Maß zur Bestimmung des relativen Körpergewichts, der auch als Berechnungsgröße für die Gewichtsklassifikation gilt. Der Quotient aus Gewicht und Körpergröße zum Quadrat (kg/m²) bestimmt den BMI.

Normalgewicht: 18,5-24,9 kg/m²
Übergewicht: => 25 kg/m²
Adipositas/ Fettleibigkeit: => 30 kg/m²

Ab einem BMI von 25 gilt das Risiko für Begleiterkrankungen des Übergewichts als besonders hoch. Dabei bestimmt der BMI lediglich das Körpergewicht im Verhältnis zur Körpergröße, sagt also eigentlich nichts über die Gesundheit eines Menschen aus. Zwar ist Adipositas als Krankheit offiziell anerkannt, bei der die Vermehrung des Körperfetts über das Normalmaß hinausgeht. Aber auch Menschen mit einem hohen BMI können gesund sein und müssen nicht zwangsläufig unter Folgeerkrankungen wie Herz-Kreislauf-Problemen oder Diabetes leiden, ebenso wie Menschen mit einem niedrigen BMI selbstverständlich nicht automatisch gesund sind.

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