Anonymous

Kontrovers und maskiert

Draußen herrscht bitterer Frost. Auf dem Marktplatz in Plzeň versammeln sich bis zu einige Hundert Menschen, um gegen das ACTA-Abkommen zu protestieren. In der Nähe der St.-Bartholomäus-Kathedrale spricht ein junger Mann zur Menge. Mit erregter Stimme fordert er die Anwesenden auf, ihre Ablehnung gegen die geplanten Einschränkungen und die Internet-Zensur kundzutun. Unter den Fotografen, Journalisten und Passanten befinden sich Anhänger und Mitglieder der Anonymous-Bewegung. Diese weltweite Protest-Bewegung ist nun also auch in Tschechien heimisch geworden.

Ich wärme meine Hände an einer heißen Tasse Glühwein, mit dem ich die Froströte aus meinem Gesicht zu vertreiben versuche. Um mich herum sehe ich allerdings keine frostige Wangen, sondern vorwiegend Masken. Sie sehen auf den ersten Blick neutral aus, auf den zweiten Blick wird allerdings deutlich, dass sie durch ihre Gleichförmigkeit eine Botschaft transportieren. Äußerliches Merkmal von Anonymous ist diese Maske, das Vendetta-Symbol.

Was bedeutet dieses Symbol eigentlich? Man kennt es aus dem Comic und dessen Verfilmung mit dem Titel V wie Vendetta, in deren Mittelpunkt die Figur Guy Fawkes und seine Komplizen stehen. Diese planen sie einen terroristischen Anschlag auf den Westminster Palace in London. Dies scheint an dieser Stelle vielleicht ein rein formaler Einschub zu sein, allerdings ergibt sich ein gewisser Zusammenhang, wenn einige Medien Anonymous als „einheimische Terroristen“ oder „Internet-Instrument des Bösen“ (US-TV-Sender FOX) bezeichnen. Wie präsentiert sich diese Bewegung aber in Tschechien?

Allseitig anonym?

Foto: Stian Eikeland

Selbst schuld an der verzerrten medialen Berichterstattung?

Die Darstellung der Hacker-Gruppe Anonymous hat in tschechischen Medien negative Züge, sie kann vielleicht sogar als verzerrt bezeichnet werden. Ist daran aber zu einem bestimmten Maße nicht die Gruppe selbst Schuld? Einen Einblick innerhalb die – wie sie sich selbst nennen – „Anons“ zu bekommen, erweist sich als unmöglich, zumindest, wenn man nicht vorhat, selbst Mitglied zu werden. Beim Versuch, Personen zu kontaktieren, die mit Anonymous in Verbindung stehen, bekomme ich stets die gleiche Antwort: „Sei nicht böse, ich bin nur ein Sympathisant der Gruppe und unterstütze sie, aber konkrete Informationen kann ich dir nicht geben.“ Bei etwas mehr Glück gerät man sogar an Personen, die wirklich etwas zu sagen hätten, es aber dennoch nicht tun. Sie schicken höchstens ein Link zu einem erklärenden Video. Gilt vielleicht eine verpflichtende Verschwiegenheit oder ein verbindlicher Verhaltenskodex für die Anons? Vielleicht ist deren einzige Grundregel, keine eigenen Meinungen, Standpunkte und erläuternde Argumente zu medial verbreiteten Informationen zu verlautbaren, weil man damit einen Einblick in Zielsetzung und Beschaffenheit der Gruppe bekäme, der nicht per Internet zu recherchiern ist – und das wäre unerwünscht. Diese Verhaltensweise ist jedoch ziemlich unglücklich, wenn man tatsächlich konkrete Erklärungen haben möchte und sich nicht mit Internet-Videos zufrieden gibt, in denen alles unter dem Mantel der Anonymität verhüllt ist. Vor allem leistet das einer verzerrten Interpretation Vorschub.

Video-Botschaft an die tschechische Regierung: „Wir sind keine Terroristen...“

Ich habe aber nicht aufgegeben, und die Geduld hat sich schließlich ausgezahlt. Ein Anonymous-Mitglied erläuterte mir seine Sicht auf die Gruppe, um den allgmein verbreiteten Informationen entgegenzutreten. Um die Gewohnheit beizubehalten, bleibt er auch hier anonym. Wie sieht er also Anonymous?

„Die tschechischen Massenmedien stellen die Anons als Hacker dar, die Regierungsserver zum Abstürzen bringen, die Ampeln in Prag abschalten oder Klärwerke sabotieren wollen. Die Wahrheit ist aber woanders. Auf einer allgemeinen Ebene geht es um die Idee des freien Internets, Staates, Menschen... Es ist eine Vereinigung von Menschen, die sich mit dieser Idee identifizieren und als solche zu Anonymous gehören. Es handelt sich um keine Partei, in die man öffentlich eintreten und sagen kann ‚jetzt bin ich ein Anon‘, weil ich in irgendeinem Club bin. In der heutigen Internet-Situation erklärt sich jeder 15-Jährige zu einem Anons-Mitglied, nur um sich den Anschein eines krassen Hackers zu geben. Auch deshalb ist es nicht leicht herauszufinden, wie es wirklich ist. Es haben mir schon einige Leute geschrieben, dass sie beginnende Hacker sind und dabei helfen wollen, Server zum Absturz zu bringen; das ist allerdings nicht der Zweck der Sache, sondern nur ein Mittel, die Menschen darauf aufmerksam zu machen, was bei uns vor sich geht, damit sie beginnen, nachzudenken.“ Ein weiteres Mitglied verrät, dass vorerst keine Verteidigungsstrategie gegen verzerrte Informationen entwickelt wird.

„Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“

Weitere Informationen über Anonymous erhält man über Wikipedia, Gruppenprofile auf Facebook und YouTube-Videos. Allgemein bekannt ist die Charakterisierung von Anonymous als internationale Bewegung ohne abgesteckte Hierarchien. Im Vordergrund steht derzeit die Unterstützung für ein freies Internet. Die Bewegung Anonymous ist nämlich überzeugt, dass der Internet ein Raum ist, in dem sich das Leben von so vielen Menschen wie noch nie zuvor abspielt; seine Einschränkung hätte die Einschränkung der gesamten Kommunikation, Geschäftstätigkeit und Arbeit des Menschen sowie der Freiheit an sich zur Folge. Um Druck auf die Politik auszuüben, verwenden sie als Kampfinstrument die so genannte DdoS-Methode (Distributed Denial of Service). Dabei werden Server mit einer großen Menge Anfragen überlastet, was deren Absturz zur Folge hat. Insgesamt handelt es sich bei den Anonymous-Aktivitäten um Ad-hoc-Aktionen, die auf konkrete Anlässe oder Probleme ausgerichtet sind. Gleichzeitig ist es interessant, mit welcher Geschlossenheit sie sich nach außen präsentieren. Man kann von einer gewissen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sprechen, die der Bewegung durchaus Charme verleiht.

Politik und die Mobilisierung der Öffentlichkeit

Und wie reagieren die politischen Parteien auf die Anonymous-Aktionen? Offen wird die Bewegung bisher von der Tschechischen Piratenpartei unterstützt, die auf ihren Internetseiten im Zusammenhang mit den Protesten gegen das internationale Abkommen ACTA anführt, dass sie „die Motavitation der Anonymous-Bewegung und ihr Recht zu demonstrieren unterstützt, genauso wie weitere Formen des zivilen Ungehorsams gegen dieses gefährliche Spiel von Interessensgruppen.“ Allerdings kann eine der tschechischen Regierungsparteien die Gruppe nicht ausstehen. Anonymous hackte sich in den Server der Webseiten der rechtskonservativen Partei ODS ein, wobei auch persönliche Daten über deren Mitglieder in die Hände der Gruppe gelangten. Diese wurden dann am folgenden Tag an einige tschechische Medien geschickt. Das Ziel wurde erreicht: Die Ratifizierung von ACTA wurde von der tschechischen Regierung vorerst gestoppt.

„Gerade die Anonymität bringt Einzelne eher dazu, Mut zu zeigen und eventuelle Schamgefühle zu überwinden.“

Anonymous gelingt es, die Öffentlichkeit mit neuen Mitteln zu mobilisieren; die Menschen aus ihren Sofas auf die Straße zu hieven. Dies konnte man bei den Protesten gegen ACTA deutlich sehen. Aus der Perspektive der tschechischen politischen Kultur kann so etwas als Erfolg betrachtet werden. Vor allem wenn man sich rückblickend die Formen politischer Meinungbildung anschaut, als die Tschechen gesellschaftliche Probleme vorwiegend im Privaten oder beim Bier diskutierten. Anonymous hat auf die Erstarrung der hiesigen Politik aufmerksam gemacht. Die Bewegung spricht ihre Anhänger über das Internet an und fordert sie zur Partizipation auf, die schließlich in eine reale Protestbewegung münden kann. Und gerade die Anonymität bringt Einzelne eher dazu, Mut zu zeigen und eventuelle Schamgefühle zu überwinden. Und somit ihren Protest und ihre Überzeugung auch auf der Straße kundzutun. Durch die Vendetta-Maske oder zumindest die undurchsichtige Struktur der Anons bleiben sie geschützt. Die Bewertung ihrer Aktivitäten fällt subjektiv verschieden aus, man kann sie auch ablehnen. Eines ist jedoch klar: Auch in der westlichen Welt zeigt sich, was für ein mächtiges politisches Instrument das Internet sein kann.

Übersetzung: Ivan Dramlitsch

Copyright: Goethe-Institut Prag
März 2012

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