Reisen, um zu erkennen

René Nekuda
Foto: © René Nekuda

Tempel Bali, Besakih, Indonesien. René Nekuda steht rechts. Foto: © René Nekuda

Als er 18 Jahre alt war, ging René Nekuda als Freiwilliger nach Kenia. Die Rückkehr von dort fiel ihm schwer. Die Reise hat seine Sicht auf das Leben und sein bisheriges Werteverständnis grundlegend geändert. Er begann ein Studium an der Literaturakademie Josef Škvorecký in Prag, wurde Lehrer für kreatives Schreiben, engagiert sich in Wohltätigkeitsorganisationen und war im Laufe der Jahre in Indien (2009) und Kolumbien (2010) tätig. 2011 besuchte er aus persönlichem Interesse Indonesien. Einige Eindrücke von den (Lebens-) Reisen des heute 27-Jährigen.

Ein Erlebnis, das einen verändert

Die Geschichte des Reisenden René Nekuda begann im Januar 2005, als er die erste gedruckte Realityshow Tschechiens gewann – Freiwilliger für Kenia gesucht. Diesen Wettbewerb veranstaltete die Zeitschrift Nový prostor gemeinsam mit dem Humanistischen Zentrum Narovinu. Nachdem er anstrengende Kurse für Freiwillige absolviert hatte, medizinisch durchgecheckt und geimpft wurde, brach er Ende Oktober des gleichen Jahres (2005) zu einer einmonatigen Reise durch den „Schwarzen Kontinent“ auf. Seine Aufgabe bestand nicht nur – wie er ursprünglich dachte – darin, Artikel über die Tätigkeit von humanitären Organisationen in Kenia zu schreiben, sondern an dieser Tätigkeit auch aktiv mitzuwirken, vor allem im Bereich der Fernadoption.

„Beim Dokumentieren der Fernadoptionen muss man vor allem eine starke Psyche haben. Man muss sich klarmachen, dass man einfach nicht alle Kinder retten kann“, klagt René. „Dass da ein paar Auserwählte sind... und alle diese unglaublichen Lebensgeschichten, denen man begegnet, das muss man erstmal verarbeiten und aushalten. Aber ein strahlendes Kinderlächeln entschädigt für alles.“

René bereiste Kenia kreuz und quer. Obwohl er auch touristische Orte wie die Küstenstadt Mombasa oder Safaris besuchte, war er in den allermeisten Fällen mit der harten Realität des armen Afrika konfrontiert. Dabei betrachtete er das Land weder mit übertriebenem Mitleid noch distanziert. Ganz im Gegenteil, wie er in seiner Reportage über Rusing Island schreibt: „Diese Insel, wo ich im Bett lag, mit dem Kreuz des Südens über mir, zehn Zentimeter großen Kakerlaken unter mir, wo Mücken mein Blut saugten und die Kinder weder Playstation noch Harry Potter kennen, in diese Insel habe ich mich verliebt und sie wurde zu meinem Paradies auf Erden.“


Seine Reportagen waren mit Humor und einer gewissen Gelassenheit geschrieben. Bei der Beschreibung von Kebiri, dem größten afrikanischen Slum, war davon jedoch nichts zu spüren. Dieses Elendsviertel befindet sich in Nairobi. Auf zweieinhalb Quadratkilometer Fläche leben hier über eine Million Menschen ohne Wasser, Toiletten und Strom. Auch wenn ihn diese Lebensbedingungen zunächst konsternierten, so war die Begegnung mit diesem Ort der Schlüsselmoment, der seine bisherige Sicht auf die Welt veränderte. „Eine meiner größten Erkenntnisse war“, schreibt René Nekuda im Nový prostor, „dass wir auf das schauen, was wir nicht haben, während sie das betrachten, was sie haben. Also sind wir nicht glücklich mit dem, was wir haben, und sie sind glücklich auch ohne das, was sie nicht haben.“ Auch das ist ein Grund dafür, warum Kibera René so unter die Haut ging. Und warum er sich seit seiner Rückreise danach sehnt, nach Kenia zurückzukehren.

Anstrengendes Indien

René NekudaNach dieser starken Erfahrung in Kenia fuhr René vier Jahre später nach Indien, um die Aktivitäten der Organisationen Narovinu und Caritas zu dokumentieren. „Mich überraschten die Menschenmassen, dieser extreme Trubel in den Straßen der Städte. Indien war für mich psychisch anstrengend, denn ständig wollte irgendjemand Geld von mir. Das war auch der größte Unterschied zu Kenia – dort sind die Menschen stolz und uneigennützig hilfsbereit. Indien ist leider das genaue Gegenteil“, beschreibt René die Schattenseiten dieses Landes.

Eine Rückkehr nach Indien reizt ihn deshalb nicht so sehr. Ein Grund kann auch sein extremstes Erlebnis dort sein, und zwar eine Fahrt mit der Eisenbahn in der letzten Klasse. Jetzt kann er zwar schon ein wenig darüber lachen, aber damals hatte er Angst um sein Leben. „Stellen Sie sich die Situation vor, dass über ihnen Leute sitzen, die mit ihren schmutzigen Füßen vor ihrem Gesicht rumwedeln, die Fäkalien aus der überquellenden Stehtoilette den halben Waggon in Beschlag nehmen und die Hälfte der Inder auf traditionelle Art und Weise ihre Nase entleeren – nämlich ohne Taschentuch. Dazu eine Schweinehitze und kaum Platz“, schildert René plastischdiese einzigartige Erfahrung. Seine Haltung zu Indien formuliert er mit dem Zitat einer Britin, der er dort begegnete: „Indien ist für mich shit and jasmine“.

Das Leben ist „mañana“

Ein Jahr später reiste René mit einer Freundin durch Kolumbien in Südamerika. Diese Reise bezeichnet er als „ein bisschen verrückt“. Der Grund ist offensichtlich, wie wir aus seinem Blog erfahren: „Nach Kolumbien fuhr ich ohne Reiseführer, ohne Karten, Uhr und Handy, ja sogar ohne Spanischkenntnisse!“ Obwohl er wieder die Aktivitäten einer Wohltätigkeitsorganisation dokumentierte, diesmal der österreichischen FUNSCRI, verbrachte er die meiste Zeit als Tourist. Neben traumhaft schönen blauen Lagunen besuchte er zum Beispiel auch ein Dorf in der Nähe von Cartagena, in dem seiner Aussage nach die menschliche Entwicklung zu einem Stillstand gekommen ist – Ararka. „Die Menschen hier rauben, morden, vergewaltigen, es fehlen ihnen die grundlegenden, gewöhnlichen sozialen Verhaltensmuster“, schockiert René mit der Beschreibung eines Dorfes, das selbst Google nicht kennt. Ansonsten begegnete René kaum Gewalt oder Drogen, also jenen Vorurteilen, die er bei seiner Ankunft in Kolumbien im Gepäck hatte. „Die Lebensphilosophie der Kolumbianer heißt ,mañana‘, also dass nichts ein Problem ist“, beschreibt er das kolumbianische Naturell. Also recht ähnlich wie in Kenia, wo sie für diese Lebenseinstellung einen anderen Begriff haben: Hakuna matata.

In Kolumbien war René mit keiner unerwarteten Situation konfrontiert, die er nicht bewältigt hätte. „Wenn man schon viel in verschiedenen Ländern unterwegs war, dann bemerkt man, dass sich zahlreiche Situationen oder Prinzipien ähneln“, erklärt er.

„Dritte-Welt“-Land

Das bisher letzte außereuropäische Reiseziel, das René besuchte, war Indonesien. Dort fuhr er aus persönlichem Interesse hin. Wie es jedoch seine Angewohnheit ist, interessierte er sich vor allem dafür, die Menschen und die Kultur dieses Inselstaates kennenzulernen, wo jede einzelne Insel irgendetwas Außergewöhnliches hat. Und welchen Eindruck hat er von Indonesien? „Dieses Land ist für mich ein Symbol für Ruhe und Behaglichkeit, aber genauso wie Kenia oder Indien ist es ein ‚Dritte-Welt-Land‘ mit allem Drum und Dran. Also dass die Leute hier arm, aber mehr oder weniger glücklich sind.“

Kenia: Massai. Foto: © René Nekuda

Von seinen Reisen erzählt René Nekuda in Vorträgen, die er vor allem in Grund- und Mittelschulen hält. In Zukunft plant er wegen eines persönlichen Projektes eine Rückkehr nach Kenia; gerne würde er hierbei seine Kurse für kreatives Schreiben einbinden. Das Ergebnis sollte eine Sammlung von Erzählungen sein, und die Erlöse dieses geplanten Buches sollen den Einwohnern des kenianischen Slums Kebiri zugutekommen. Aber auch Kambodscha reizt ihn. Man kann also sicher sein, dass René bald wieder interessante Informationen über andere Kulturen und Menschen außerhalb der „ersten Welt“ weitergeben wird.

Übersetzung: Ivan Dramlitsch
Copyright: Goethe-Institut Prag
Juli 2013

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