Die Kunst der Berührung

Foto: © Alice ZoubkováFoto: © Okamžik, e.V.
Foto: © Okamžik, e.V.

„Ich mache nur noch diesen geknüpften Vorhang fertig, und dann können wir das an die Wand hängen“, sagt Jarmila Adámková während sie mit ihren Händen flink dünne Fäden zusammenflechtet. So flink, dass niemandem in den Sinn kommen würde, dass sie seit Jahren nichts mehr sieht. Auch die Keramikfigur eines Gitarre spielenden Jungen hat sie im Handumdrehen fertig gestellt. Willkommen im Hmateliér, der Modellierungswerkstatt für Sehbehinderte. Ein Ort, wo Menschen ihre verloren gegangenen Sinne kompensieren.

Die Besucher selbst nennen dieses Atelier eine „Oase der Ruhe“. Das ist eine sehr treffende Bezeichnung, wie auf den ersten Blick deutlich wird. Schon beim Eintreten spürt man die Behaglichkeit und positive Stimmung, die von diesem Raum ausgeht. Die Werkstatt wird insgesamt von sieben blinden „Modellierern“ besucht, die sich an vier Tagen abwechseln. Die meisten von ihnen betrachten diese Tätigkeit als eine sehr angenehme Möglichkeit zu entspannen. Einer von ihnen ist Petr Uhlíř, der über seine Freundin Jarmila Adámková zum Modellieren kam. Bis zu seinem 15. Lebensjahr hatte Petr keine Probleme mit seinen Augen. Nach einem kleinen Unfall kam es zu Komplikationen mit seinem Augennerv, und in der Folge büßte er allmählich seine Sehkraft ein. Das Atelier besucht er zwar schon seit über einem Jahr, aber dennoch betrachtet er sich nach wie vor als Anfänger. „Das Wichtigste ist aber, dass ich nicht zu Hause hocke, sondern hierher komme und etwas tue“, erklärt Petr während er eine weitere „Schlange“ an der Vase befestigt, die er gerade herstellt.

Axmans tschechisches Unikat

Die Grundlage der Werkstattarbeit ist die sogenannte Axman Modelliertechnik (ATM), die vor 14 Jahren Štěpán Axman aus Tasov in Mähren entwickelte. Dabei handelt es sich um eine einzigartige kreative Vorgehensweise, die sich der Erfinder sogar patentieren ließ. Das Besondere an der Technik besteht darin, dass die Sehbehinderten ihre Keramikprodukte mit Hilfe von „taktilen Schlangen“ gestalten, die sie an bestimmte Muster anlegen. Dank dieser Muster können sie sich an ihren Werken gut orientieren, fast so, als würden sie sie sehen. Die Modellierarbeit orientiert sich gleichzeitig an den Proportionen menschlicher Hände und Finger.

Jarmila Kerlická ist die Leiterin und Mitbegründerin des Hmateliérs. Sie lernte die Technik mit verbundenen Augen, um möglichst authentisch die Situation von Sehbehinderten nachzuvollziehen. Bei der Axmann-Modelliertechnik gibt es mehrere Schwierigkeitsgrade. „Alle beginnen mit Gefäßen. Wenn sie dann das Modellieren mit Hilfe der Schlangen beherrschen, geht es mit Köpfen weiter. In der Regel verwenden wir Getränkeverpackungen, auf die das Grundgerüst gestellt wird. Dann fangen die Leute an zu lernen, wie man Gesichter modelliert. Die höchste Schwierigkeitsstufe sind Figuren“, erläutert Jarmila Kerlická.

Foto: © Okamžik, e.V.
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Was sehen Blinde?

Die Axman-Technik entstand ursprünglich für Sehbehinderte, die von Geburt an blind sind und überhaupt kein visuelles Gedächtnis haben. Das Hmateliér wird aber auch von Klienten besucht, die erst im Laufe ihres Lebens das Augenlicht verloren haben oder noch über einen Rest Sehfähigkeit verfügen. Für diese Gruppe muss die Arbeit und die Technik angepasst werden. Obwohl das visuelle Gedächtnis mit der Zeit verloren gehen kann, wissen diese Menschen in der Regel, wie ihre Umgebung aussieht und können sich die Umwelt viel besser vorstellen. Das ist auch der Fall von Jarmila Adámková, die seit zehn Jahren blind ist, sich aber an alles noch sehr gut erinnern kann. „Einmal hörte ich einen Film, den ich vor langer Zeit gesehen hatte, und ich hatte eine ganz klare Vorstellung von den Schauspielern und sogar ihren Kostümen – in meinen Kopf ist das also noch irgendwo“, berichtet sie von einer typischen Situation.

Denjenigen, die von Geburt an blind sind, helfen beim Modellieren verschiedene Prototypen und Modelle. „Es ist interessant, dass sich diese Leute zum Beispiel bei Baustellen anhand der Geräusche vorstellen können, wie groß etwa der Raum ist, sie können ihn abtasten, aber wie hoch das Gebäude ist oder wie es aussieht, bleibt ihnen verborgen“, erklärt die Werkstatt-Leiterin.

Unklar bleibt auch, wie sich blinde Menschen Farben vorstellen. Die Werkstattgründerin führt als außergewöhnliches Beispiel eine blinde junge Frau an, die mit farbigen Wachsstiften zeichnet. Sie arbeitet mit ihrer Mutter zusammen, die versucht ihr die Farben anhand von Kindheitserinnerungen nahezubringen – also aus der Zeit, als die junge Frau noch sehen konnte. So ordnet sie beispielsweise die Farbe braun dem Pelz ihres Lieblingsteddys zu. „Sie markiert sich daraufhin die Stifte und benutzt sie je nach Bedarf. Das ist jedenfalls sehr selten, und sie ist im Hmateliér die einzige, die sich mit solchen Zeichnungen beschäftigt“, so Jarmila Kerlická.

Das Hmateliér veranstaltet oft kleine und größere Ausstellungen, auf denen die Künstler ihre Werke präsentieren. Derzeit bereiten sie gemeinsam mit dem Kunsttherapeuten Evžen Perout vom Deyl-Konservatorium ein Seminar vor, das sich Hauszeichen widmen wird; das Ergebnis sollte dann eine Ausstellung im Klementinum sein.

Kombination der tschechischen Wörter „hmat“ =„Griff“, „Tastsinn“ und „ateliér“ = „Atelier“, Anm. d. Übers.
Alice Zoubková
Übersetzung: Ivan Dramlitsch

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
März 2014

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