Autoren am Ball

BRASILIEN • ROGÉRIO PEREIRA

Angeblich sind Avocados grün

Bolzen in Gummilatschen, in handbemalten Lumpen und selbstgenähten Turnhosen: In Brasilien braucht es keinen Luxus, um den schönsten Sport der Welt zu betreiben.

Übersetzung: Michael Kegler

Sie waren nicht unsere Freunde. Aber ohne sie ging es nicht. Im Galopp rannten wir zu dem kleinen Bolzplatz hinter der hölzernen Kirche. Nicht immer spielten wir gegen den grausamen Gegner. Wir fürchteten uns vor der anhaltenden Schmach, die unsere Schritte wie ein Schatten verfolgen würde, die ganze Woche lang, bis in die Schule. Der Spott anderer Kinder ist ein weit aufgerissenes Höllentor. Aber wir waren zuversichtlich. Und verloren fast immer. An Siege kann ich mich nicht erinnern. Ein oder zwei Unentschieden. Ansonsten nur Niederlagen im unbarmherzigen Angesicht Gottes.

Wir waren geschunden, doch als Mannschaft trugen wir einen klangvollen Namen: San Remo. Den hatte ich abgeschrieben von der Wand eines Bekleidungsgeschäfts in der Innenstadt von Curitiba, wo auf der Straße lauter fette und hässliche Prostituierte stehen. San Remo hatte keine einheitlichen Trikots. Fußballschuhe war ein Fremdwort, von dem wir nicht einmal wussten, wie man es genau schrieb. Ignoranz ist ein Stein, den man gegen die Höllentür schleudert, um zu sehen, ob man sie aufbrechen kann.

Ich weiß nicht mehr, wer auf die Idee kam, den gefürchteten Gegner als Avocado zu bezeichnen. Ich jedenfalls kann mich dessen nicht rühmen - ich bin farbenblind. Der Grund dafür war einfach: Die Hemden der Avocado-Mannschaft (jawohl, sie hatten Hemden und sogar mit Nummern auf dem Rücken) waren grün. Aber mir kamen sie auf dem Platz nicht wie acht Avocados vor (elf Spieler auf jeder Seite passten nicht auf den schmalen Streifen Brachland zwischen Straße und Kirche).

Für jenes Spiel - nach unzähligen Niederlagen - entschied ich, dass wir auch ein Trikot haben müssten, eine einheitliche Spielkleidung des San Remo. Als lächerliche Rüstung gegen die Lanzen der Gegner. Ich war es leid, ohne Hemd spielen zu müssen - Hühnerbrust, auf der Haut jede einzelne Rippe zu sehen, gepeinigt von Wind und den feindlichen Bällen. Unsere Spieler (Jungs zwischen neun und zwölf Jahren) sollten alle ein weißes T-Shirt besorgen. Bekommen habe ich Lumpen, von Kinderleibern verformt. Mit Farbtöpfchen malten wir dann Nummern auf die Rückseite. Mein Bruder half mir dabei. Zwei beneidenswerte Designer. Er, mein Bruder, war unser Tormann. Also bekam er ein schwarzes Trikot angepinselt mit einer orange strahlenden Nummer 1. Die Nummern wurden alles andere als symmetrisch. Auf jedem Hemd war die Nummer anders groß. Auf unseren Rücken die Last der Unwissenheit. Unsere Turnhosen waren aus Polyester, von unseren Müttern auf alten Singer-Maschinen zusammengenäht. An den Füßen trugen wir „Conga“, „Kichute“, Stoffturnschuhe, oder Gummilatschen. Manche spielten auch barfuß. In Gummilatschen Fußball zu spielen ist witzig. Ein treffsicherer Schuss. Der Ball fliegt. Der Latschen folgt ihm anhänglich durch die Luft. Wir waren eine kleine Armee von Erbärmlichen, Bettler, die auf ein Wunder warten. Doch Gott und der Pfarrer hielten mit Eifer zum Gegner.

Wir verloren das Spiel. Doch wir brauchten uns für die Niederlage nicht schämen. Ein oder zwei Tore Unterschied. Wir hatten wie Löwen gekämpft zur Premiere unserer einzigen Trikots. Für Siege waren wir nicht gemacht. Unsere Bestimmung war das Verlieren. In Lumpen kehrten wir nach Hause zurück. Die orangen Nummern hingen nach allen Seiten herunter.

Manchmal komme ich noch an dem Schlachtfeld vorbei. Die alte Kirche hat einem neuen Gotteshaus Platz gemacht, dessen Turm Petrus am Bart streicheln könnte. Der Pfarrer ist tot. Er sitzt nun zur Rechten Gottes-des-allmächtigen-Vaters. Auf dem Bolzplatz ist eine Wohnanlage aus gleichförmigen Häusern entstanden. Die Avocado-Mannschaft gibt es nicht mehr. Unsere auch nicht. Das Geschäft namens San Remo hat zugemacht. Nie mehr bin ich einem der anderen Spieler begegnet. Mutter ist tot. Die alte Singer liegt auf einem Friedhof für Nähmaschinen. Und immer noch bin ich mir nicht sicher, ob Avocados tatsächlich grün sind.

Foto: © Guilherme Pupo

Autorensteckbrief

Name:
Rogério Pereira

Autor von:
Na escuridão, amanhã (2013)

Fußball ist für mich, ...
Ein Zeitvertreib, bei dem Männer in ihre Kindheit zurückkehren. Und Kinder von der Ewigkeit träumen.

Das haben Literatur und Fußball für mich gemeinsam:
Die Improvisation, die man braucht, um tief in der Nacht die Schlaflosigkeit auszudribbeln.

Meine liebste Fußballvokabel:
Wir haben gespielt, wie noch nie und wie immer verloren.

Meine schönste/witzigste Fußballerinnerung:
Als Kind habe ich mal ein Tor geschossen. Hinter dem Tor stand ein Schweinestall. Als ich mein Tor feierte, beäugte mich das Schwein argwöhnisch.

Meine Position auf dem Spielfeld:
Verwirrter Mittelfeldspieler

Europameister 2016 wird:
Albanien (zur Freude von Ismail Kadaré)