Wenn Arbeitgeber kreativ werden
Als eines der letzten Länder Europas hat Deutschland einen flächendeckenden Mindestlohn eingeführt. Seit 1. Januar müsste jeder Arbeitnehmer in Deutschland mindestens 8,50 Euro brutto die Stunde verdienen – theoretisch. Denn noch immer weigern sich manche Arbeitgeber, ihre Mitarbeiter angemessen zu bezahlen. Versuche, den Mindestlohn zu umgehen, seien keine Einzelfälle, so der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB).
der-mindestlohn-gilt.de ist die Adresse einer Internetseite, die das Bundesministerium für Arbeit und Soziales seit diesem Jahr betreibt. Tatsächlich: Auf gesetzlicher Ebene gilt der Mindestlohn – in der Realität tut er das aber nicht für alle. Mareike* musste um ihren Mindestlohn kämpfen. Seit kurzem erhält sie ihn – doch dafür waren Gespräche mit dem Chef und die Unterstützung ihrer Kollegen nötig.
Appell ans Gewissen des Chefs
Mareike arbeitet seit drei Jahren für ihren jetzigen Arbeitgeber, zunächst als Auszubildende im Rahmen einer Umschulung, seit einem Jahr als ausgebildete Kauffrau. In den ersten neun Monaten nach dem Ende ihrer Ausbildung änderte sich auf ihrem Gehaltsnachweis jedoch wenig. Für ihren Vollzeitjob erhielt sie 6,92 brutto pro Stunde – 1,58 Euro weniger als vom Gesetzgeber vorgeschrieben.
Im März konfrontierte sie ihren Chef mit der Frage, wann ihr der Mindestlohn ausgezahlt würde. Zu diesem Zeitpunkt hätte sie ihn eigentlich bereits seit zwei Monaten erhalten müssen. Die Reaktion fiel harsch aus: „Er sagte einfach, ich hätte ja im letzten Jahr den Vertrag unterschrieben, und der sei jetzt noch immer gültig.“ Eine Beschwerde kam für sie zunächst nicht infrage: „Da kannst du dann deine Sachen packen und gehen“, sagt Mareike. Erst kurz vor dem Gespräch war sie Zeugin geworden, wie ihr Kollege mit sofortiger Wirkung vom Chef entlassen wurde. „Der fackelt da nicht lang.“ Dennoch funktionierte der Appell an das Gewissen ihres Chefs bei Mareike tatsächlich.
Viele Arbeitnehmer wählen die Mindestlohn-Hotline
Etwa vier Millionen Arbeitnehmer, die bis 2014 weniger als 8,50 Euro brutto pro Stunde verdient haben, müssten seit Beginn dieses Jahres den Mindestlohn erhalten. Das Gesetz sieht wenige Ausnahmen vor, beispielsweise Praktikanten, Auszubildende und Zeitungszusteller. Für viele Branchen gelten zudem Übergangsfristen von bis zu drei Jahren, bis der Mindestlohn fällig wird.
Die vom DGB eingerichtete Mindestlohn-Hotline wählen auch Monate nach der Einführung des Mindestlohns noch rund 50 Arbeitnehmer pro Tag – in den ersten Wochen waren es zwischen 300 und 400. Bis Anfang Mai verzeichnete der DGB insgesamt weit mehr als 9.000 Anrufe von Personen, die sich über ihre Rechte erkundigen wollten.
Zwar geht es dabei in den meisten Fällen um Informationen zum Mindestlohn. Doch eine signifikante Anzahl der Anrufer berichtet auch von Strategien ihrer Arbeitgeber, den Mindestlohn zu umgehen. Das neue Gesetz habe die Kreativität so manches Unternehmers angekurbelt, sagt DGB-Sprecherin Marion Knappe. Dabei hätten sich im Gespräch mit den Arbeitnehmern im Wesentlichen zwei Praktiken herauskristallisiert, mit denen Arbeitgeber die faire Bezahlung ihrer Mitarbeiter zu vermeiden versuchten.
Gutschein-Methode und angepasste Arbeitszeiten
Da ist zum einen die Gutschein-Methode, von denen bei der DGB-Hotline etwa Bäckereiverkäuferinnen oder Angestellte im Solarium berichtet haben. Anstelle der Erhöhung des bisherigen Stundenlohns versuchen Arbeitgeber dabei, die Differenz zwischen tatsächlichem Lohn und Mindestlohn durch Gutscheine – also beispielsweise für Brötchen oder das Bräunen im Solarium – auszugleichen. „Das ist als zusätzliche Leistung zwar schön – aber natürlich nur, sofern der Mindestlohn auch gezahlt wird. So geht das nicht“, so die DGB-Sprecherin.
Noch häufiger ist die Methode der künstlichen Reduzierung von Arbeitszeiten. Der „skurrilste Fall“, der dem DGB bislang unterkam, war der einer Mitarbeiterin in einem Nagelstudio, die zwar auf dem Papier den Mindestlohn erhält, dafür aber ihre Arbeitszeiten „anpassen“ musste. Ab Januar wollte ihr Arbeitgeber nur noch jene Zeit als Arbeitszeit anrechnen, die die Mitarbeiterin unmittelbar mit den Nägeln der Kundinnen verbringt – obwohl sie selbstverständlich wie bisher acht Stunden pro Tag am Arbeitsplatz anwesend sein muss.
Kein Abbau von Arbeitsplätzen
Gegner des Mindestlohns hatten argumentiert, eine flächendeckende Lohnuntergrenze würde zu massiven Arbeitsplatzverlusten führen. Bei Hochrechnungen kamen Wirtschaftswissenschaftler im Vorfeld der Einführung auf bis zu eine Million gefährdeter Arbeitsplätze. Insbesondere in den neuen Bundesländern, in denen die Löhne unter dem bundesdeutschen Durchschnitt liegen, schade der Mindestlohn vielen kleinen Unternehmen, so das Fazit vor allem konservativer Volkswirte.
Tatsächlich lassen sich diese Vorwarnungen nicht bestätigen. Eine neue Studie der Deutschen Forschungsgemeinschaft kommt sogar zu dem Schluss, dass der Mindestlohn unter bestimmenten Bedingungen zu einem Entstehen neuer Arbeitsplätze führen könne. Diese Annahme entspringt einem Gedankenexperiment der Forscher um den Regensburger Wirtschaftswissenschafter Joachim Möller, das die Auswirkungen des Mindestlohns auf das lokale Baugewerbe durchspielt: Man stelle sich ein lokales Bauunternehmen vor – für gering qualifizierte, aber zu schwerer körperlicher Arbeit fähige Männer ein attraktiver Arbeitgeber. Wenn der Unternehmer sich entscheidet, seine Belegschaft aufzustocken, erhöht er die Nachfrage nach diesen Arbeitskräften, was den Lohn nach oben treibt. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der Arbeitgeber auch der alten Belegschaft mehr bezahlen muss. Zwingt ein Mindestlohn ohnehin dazu, mehr zu bezahlen, fällt ein Argument für eine kleinere Belegschaft weg. In der Theorie der Wissenschaftler kann sich der Mindestlohn also positiv auf das Beschäftigungsniveau auf regionaler Ebene auswirken – in der Studie von Joachim Möller würde dies vor allem den Westen Deutschlands betreffen.
Betroffen ist der gesamte Niedriglohnsektor
Dort waren weitaus mehr Arbeitnehmer von der Mindestlohneinführung betroffen als angenommen: Mehr als 3,6 Millionen in Westdeutschland Beschäftigte, die im vergangenen Jahr weniger als 8,50 Euro die Stunde verdienten, haben jetzt Anspruch auf den Mindestlohn – gegenüber 1,3 Millionen Ostdeutschen. Demographisch ist das kaum überraschend – in den alten Bundesländern arbeiten 34 Millionen Menschen gegenüber knapp acht Millionen Erwerbstätigen in den neuen Bundesländern. Allerdings zeigen die absoluten Zahlen, dass die verbreitete Annahme, in Westdeutschland seien die Löhne allgemein hoch, so nicht stimmt.
In welchen Branchen noch immer die häufigsten Probleme auftreten, wird vom DGB nicht evaluiert. „Es zieht sich aber querbeet durch den gesamten Niedriglohnsektor“, sagt Sprecherin Knappe.
Gesetzlicher Mindestlohn dank Solidarität der Kollegen
Mareike ist Ende 20. Die Region in Süddeutschland, in der sie lebt, hat für Deutschland überdurchschnittliche Lebenshaltungskosten. „Von meinem Gehalt kann ich gerade so die Kosten für meine Miete und mein Auto decken“, sagt sie. „Es kann doch nicht sein, dass ich noch immer Unterstützung von meinen Eltern brauche.“ Bei diesem Argument sei auch ihr Chef im Gespräch ins Stocken geraten, sagt Mareike.
Dass ihr Chef schließlich tatsächlich einlenkte und ihr ab Mitte dieses Jahres nicht nur den gesetzlichen Mindestlohn auszahlt, sondern auch rückwirkend für die letzten Monate nachbezahlt, verdankt sie jedoch vor allem der Solidarität ihrer Kollegen. Als diese von der Differenz zwischen ihrem eigenen und Mareikes Stundenlohn erfuhren, protestierten sie im Betrieb – mit Erfolg.
Damit zeigte sich auch, dass die vorherige Begründung des Chefs, es fehle das Geld im Unternehmen, das Geld für den Mindestlohn, so nicht stimmte. Doch viele Arbeitgeber argumentieren auch weiterhin mit finanziellen Problemen, wenn es um das Umgehen des Mindestlohns geht.
*Name geändert