Teufelskreis der Obdachlosigkeit

Foto: © Iva ZimováFoto: Felix Huth, CC BY 2.0
Was bedeutet Geld für einen Obdachlosen? Foto: Felix Huth, CC BY 2.0

Dagmar Kocmánková engagiert sich seit über 15 Jahren für die Belange von Obdachlosen. Sie ist eine der Mitbegründerinnen der Obdachlosenzeitschrift „Nový Prostor“ (NP, auf Deutsch: Neuer Raum). Im Interview spricht sie über die Haltung Obdachloser zu Geld, wie schwer es für Obdachlose ist, wieder Boden unter die Füße zu bekommen und über die mangelnde Wertschätzung für soziale Arbeit.

Die Zeitschrift „Nový Prostor“ erschien erstmals 1999, damals noch unter dem Namen „PATRON“. Sie sind der Obdachlosenszene also schon recht lange verbunden. Hat sich diese Szene seit den 90er Jahren verändert?

Die häufigsten Gründe für Obdachlosigkeit sind nach wie vor der Verlust des Arbeitsplatzes, Trennungen vom Partner oder Abhängigkeiten, meistens von Alkohol. Aber die Szene hat sich tatsächlich in den letzten Jahren sehr verändert. Als wir mit der Zeitschrift begonnen haben, waren die meisten unserer Klienten ältere Männer, die in Fabriken, der Schwerindustrie, in Staatsbetrieben gearbeitet hatten, die im Laufe der 90er Jahre Bankrott gemacht haben. Diese Männer kamen dann nach Prag, um hier eine neue Anstellung zu finden und wem das nicht gelang, der hatte meist weder Geld noch eine Unterkunft.

Ein großer Einschnitt war auch die Wirtschaftskrise 2008. Plötzlich wollten auch Menschen im so genannten „produktiven Alter“, die ihren Job verloren hatten, als Zeitschriftenverkäufer für uns arbeiten. Mittlerweile kommen auch immer häufiger jüngere Menschen. Sie sind etwa in Kinder- und Jugendheimen ausgewachsen und auf das Leben absolut unvorbereitet. Ich werde nie einen unserer Verkäufer mit einem solchen Hintergrund vergessen. Er war zum Beispiel überzeugt davon, dass man Hosen wegschmeißt, wenn sie dreckig sind, und sich dann neue kauft, oder dass Brot schon mit Butter beschmiert verkauft wird.

Können Sie auch positive Beispiele nennen? Menschen, denen der NP wieder auf die Beine helfen konnte?

Während der 15 Jahre, die es den Nový Prostor nun gibt, hatten wir sehr viele Klienten. Aber es gibt ein paar Verkäufer, die man unmöglich vergessen kann. Ich nenne zumindest drei Fälle, in denen alles gut ausgegangen ist.

Vittorio kam aus Italien nach Prag und hat mehrere Jahre an der Metrostation Dejvická verkauft. Viele von uns werden wohl nie vergessen, wie er mit starkem italienischem Akzent „Nový Prostor“ rief, um die aktuelle Ausgabe anzupreisen. Mittlerweile lebt er zufrieden in Prag und arbeitet für verschiedene Kulturveranstaltungen.

Pavel war einer der ersten Verkäufer außerhalb Prags. Er fuhr in Städte, wo keine unserer Partnerorganisationen die Zeitschrift vertreibt. Heute lebt er in der Nähe von Prag, hat eine Familie und einen festen Job.

Martin kam aus der Slowakei nach Prag. Er wohnte in den verschiedensten besetzten Häusern und hat den Nový Prostor an der Metrostation Muzeum verkauft. Das tut er heute nicht mehr. Er arbeitet im Krankenhaus am Karlovo náměstí (Karlsplatz).

Und Schicksale, die weniger gut verliefen...

Wir hatten beim Nový Prostor mit vielen Mensch zu tun, die etwa wegen Alkohol- oder Spielsucht, nicht fähig waren unseren Kodex für Verkäufer einzuhalten und mit denen wir deshalb die Zusammenarbeit beenden mussten. Sie haben ihr verdientes Geld nicht zur Verbesserung ihrer sozialen Situation eingesetzt, also für das Bezahlen einer Unterkunft oder für saubere Kleidung. Das Geld haben sie ständig entweder versoffen oder in Spielautomaten geworfen. Am nächsten Tag hatten sie dann kein Geld mehr, um Zeitschriften zu erwerben, die sie dann hätten verkaufen können. Das Verkaufsprinzip der Obdachlosenzeitschriften besteht nämlich darin, dass der Klient drei Exemplare umsonst bekommt und weitere für die Hälfte des Verkaufspreises bei uns einkauft und zum vollen Preis an die Kunden weiterverkauft. Unser Hauptziel ist es, den Klienten beizubringen, mit ihrem Geld zu haushalten. Und wir können nur denjenigen helfen, die selbst etwas an ihren Lebensumständen ändern wollen.

Foto: © Iva Zimová
Dagmar Kocmánková mit einer Verkäuferin des „Nový Prostor“, Foto: © Iva Zimová

Wie viele Leute haben während all der Jahre im Verkauf des NP gearbeitet und wie viele Verkäufer sind aktuell in der Tschechischen Republik aktiv?

In den vergangenen 15 Jahren waren das mehr als 5000 Verkäuferinnen und Verkäufer. Gegenwärtig haben wir in ganz Tschechien rund 200, die meisten in Prag, aber auch in Brno (Brünn), Olomouc (Olmütz), Ostrava (Ostrau) und weiteren Städten.

Sieht man Obdachlose in kleineren Städten mit anderen Augen als in Prag?

Menschen ohne festen Wohnsitz werden in kleineren Städten natürlich negativer wahrgenommen als in Prag oder anderen Ballungsräumen. Das wird verstärkt durch das Schamgefühl, dass sie ihr Leben nicht im Griff hätten. Deshalb versuchen viele Menschen nach dem Zerfall ihrer Ehe oder dem Verlust des Arbeitsplatzes einen Neuanfang in einer größeren Stadt, wo sie hoffen, Arbeit zu finden. Dann spielt sich oft eine immer wieder ähnliche Geschichte ab: „Ich bin nach Prag gekommen, um Arbeit zu suchen, am Bahnhof wurden mir mein Geld und alle Dokumente geklaut, aber ich habe eine nette Clique getroffen, die sich um mich gekümmert hat... bloß trinke ich mit denen den ganzen Tag Alkohol.“ Aus diesem Teufelskreis auszubrechen, ist schwierig.

Vor etwa fünf Jahren haben die Mitarbeiter der Beratungsstelle für Menschen ohne festen Wohnsitz eine Umfrage unter ihren Klienten durchgeführt. Von 100 Befragten hat nur ein einziger geantwortet, dass er sich freiwillig für diesen Lebensstil entschieden habe. Der soziale Abstieg ist leicht, der Aufstieg ungleich schwieriger. Obdachlosigkeit ist in unserer Gesellschaft ein vergleichweise junges Phänomen, aber es ist bereits erwiesen, dass Menschen, die zum Beispiel fünf Jahre auf der Straße gelebt haben, etwa die Hälfte dieser Zeit brauchen, um sich wieder zurück zu kämpfen. Und es kann natürlich auch passieren, dass aus der Obdachlosigkeit ein Lebensstil wird. Es kommt allerdings darauf an, ob sich Obdachlose freiwillig dafür entschieden haben.

Gibt es unter den Verkäufern des NP mehr Männer oder Frauen?

Eindeutig mehr Männer. Das hat auch damit zu tun, dass etwa nach dem Zerfall einer Ehe meistens der Mann auszieht und die Frau mit den Kindern in der Wohnung bleibt. Insgesamt sind etwa zwei Drittel unserer Verkäufer Männer, ein Drittel Frauen.

In welchem Alter sind der älteste und jüngste Verkäufer?

In Plzeň (Pilsen) haben wir eine Verkäuferin, die letztes Jahr ihren 80. Geburtstag gefeiert hat. Der jüngste Verkäufer ist 22 Jahre alt.

Wie viel verdient ein NP-Verkäufer durchschnittlich pro Tag? Deckt dieser Betrag die Lebenshaltungskosten eines Obdachlosen?

Die Anzahl der verkauften Exemplare hängt ab vom Geschick des Verkäufers und seinem physischen und psychischen Zustand. Einer verkauft pro Tag gerade mal zwei Exemplare, ein anderer gleich 15. Manche Verkäufer leben ausschließlich von dem Geld, dass sie durch den Verkauf des NP einnehmen. Es muss also einfach seine Lebenshaltungskosten decken. Wenn der Tagesverdienst nicht für einen Schlafplatz in einer kommerziellen Unterkunft reicht, der im günstigsten Fall etwa 120 bis 130 Kronen (etwa 4,60 Euro) kostet, muss er in einem Obdachlosenasyl oder auf dem Boot Hermes übernachten, wo eine Nacht 20 Kronen (etwa 75 Cent) kostet.

Funktionieren street papers im Ausland nach demselben Prinzip wie der NP, also dass der Verkäufer die Hälfte des Verkaufspreises für sich behält?

Weltweit gibt es etwa 100 street papers. Die meisten davon sind wie der Nový Prostor zusammengeschlossen in der Assoziation INSP (International Network of Street Papers). Bei der Gründung der INSP wurde eine Art Charta für street papers aufgesetzt. Darin steht unter anderem, dass der Verkäufer mindestens die Hälfte des Verkauspreises jeder Zeitschrift für sich behalten darf. Es gibt auch reichere street papers, bei denen der Verkäufer 60 Prozent bekommt. Das können wir uns leider nicht leisten.

Wird der „Nový Prostor“ heute häufiger gekauft als in früheren Jahren?

Die Auflage hat sich in den letzten Jahren nicht besonders verändert. Die Leute kaufen den NP mehr oder weniger gleich häufig wie früher.

Was hat Sie dazu motiviert, Obdachlosen zu helfen?

Das Leben schlägt manchmal Purzelbäume, und so ist es auch mir passiert. Als ich jung war, bin ich nach Problemen mit meinen Eltern von zu Hause ausgerissen und habe etwa ein halbes Jahr auf der Straße gelebt. Das ist eine unvergessliche Lebenserfahrung. Nach meiner Rückkehr nach Hause bin ich nach Prag gezogen. Gemeinsam mit meinem damaligen Partner Robert habe ich begonnen für den OSF Prag (Open Society Fund) zu arbeiten. Robert hatte die Gelegenheit, nach Großbritannien zu reisen und von dort brachte er eine Ausgabe der Obdachlosenzeitschrift The Big Issue mit. Wir fanden, dass es auch bei uns so etwas geben sollte. Wir haben den Kollegen von The Big Issue geschrieben und einige Monate später haben sie uns geantwortet, dass sie uns helfen würden, eine ähnliche Zeitschrift an den Start zu bringen. Wir haben auch einige street papers in Deutschland und den Niederlanden besucht und aus all diesen Eindrücken das Modell ausgewählt, dass uns für die Tschechische Republik am besten geeignet erschien.

Soziale Arbeit wird häufig nur wenig gewertschätzt. Wie könnte man das in Zukunft ändern? Ist der Fehler im System?

Sie haben Recht. Sozialarbeiter genießen keine hohe Wertschätzung, Krankenschwestern auch nicht, und überhaupt Menschen, die sich um Kranke, Sterbende oder sozial Schwache kümmern. Es ärgert mich immer maßlos, wenn ich in der Zeitung lese, dass das Budget für den Tunnel Blanka schon mehrfach angehoben wurde, wie viel eine Consulting Agentur für einen „guten Rat“ an unsere Politiker kassiert und nicht zuletzt, was Gerichtsvollzieher verdienen. Wir werden regiert vom Kult des Geldes, der Mensch als solcher ist auf die unterste Sprosse der Werteleiter abgerutscht. Wir brauchen eine Renaissance im gesellschaftlichen Denken, damit der Mensch nicht mehr des Menschen Wolf ist, sondern seine Stütze. Wir müssen die Verantwortung für unsere Taten übernehmen. Für mich ist das beste Beispiel dafür der Ansatz der Stadt München, wo die Kommunalpolitiker eingesehen haben, dass es siebenmal billiger ist, den sozialen Abstieg von Einzelnen oder ganzen Familien aufzuhalten noch bevor sie wegen Mietrückstandes aus der Wohnung geworfen werden. Das fuktioniert dort so, dass jemand, der seine Miete dreimal hintereinander nicht bezahlt hat, umgehend Besuch von Sozialarbeitern bekommt. Die versuchen dann die Ursache der schlechten Lage herauszufinden, stellen gemeinsam mit der Familie einen Haushaltsplan zusammen und suchen nach Lösungen. Dieser Ansatz sollte uns inspirieren.

Können Sie ein Zwischenfazit ziehen, was Ihnen die Arbeit beim NP gegeben hat, und auch welche Opfer Sie dafür leisten mussten?

Sie hat mir unermessliche Erfahrungen im Umgang mit Menschen gegeben. Ich habe gelernt, mich an Kleinigkeiten zu erfreuen und meinen eigenen Weg zu gehen. Andererseits litt ich aber vor etwa sieben Jahren am Burn-Out-Syndrom, das wünsche ich wirklich niemandem. Man kann da wieder rauskommen, aber danach muss man lernen, mit seiner Energie zu haushalten, sich die Arbeitszeiten einzuteilen und sich in der Zeit, die man nur für sich alleine hat, um die eigene Psychohygiene zu kümmern.

Kürzlich hat ein Spieler aus Tschechien in einer europäischen Lotterie die Rekordsumme von 90 Millionen Euro gewonnen. Was glauben Sie würde ein Obdachloser machen, wenn er erfährt, dass er soviel Geld gewonnen hat?

Ich glaube, er würde reagieren wie jeder durchschnittliche Tscheche mit einer geringen finanziellen Allgemeinbildung. Wenn sein Umfeld von dem Gewinn erfährt, könnte er sich nicht mehr retten vor „guten Ratschlägen“ und Finanzberatern, die ihm nach und nach das ganze Geld aus der Tasche ziehen würden.

Was bedeutet Geld für einen Obdachlosen?

Das gleiche wie für Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft: Es ist ein Mittel zur Befriedigung unserer Bedürfnisse.

Das Interview führte Martin Melichar.
Übersetzung: Patrick Hamouz

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
Juni 2015
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