Wie aus Geschichte Geschichten wurden

Nordsüd-S-Bahn Schadensstelle Landwehrkanal: Im Vordergrund die Einbruchstelle unter dem Tempelhofer Ufer. Dahinter sieht man den stehengebliebenen Deckenteil mit dem Fundament des Portals der kleinen Hochbahnbrücken. Der Punkt
Gesprengter S-Bahn-Tunnel, historische Aufnahme © Bundesarchiv, Bild 183-R97751 / CC BY 3.0 de
© Bundesarchiv, Bild 183-R97751 / CC BY 3.0 de

Die Sprengung des Nord-Süd-Tunnels der Berliner S-Bahn im Mai 1945 wirft bis heute Fragen auf. War es ein tragischer Unfall, ein skrupelloser Anschlag oder ein Auftrag von ganz oben? Ein Beispiel für eine Urban Legend.

Wohl jeder Berliner hat schon einmal davon gehört, wie in den letzten Kriegstagen der Nord-Süd-Tunnel der Berliner S-Bahn gesprengt und geflutet wurde. Aber wann und wie war das eigentlich genau passiert? Handelte es sich dabei um einen tragischen Unfall oder einen skrupellosen Anschlag? Und wie viele Menschen sind dabei ums Leben gekommen? Als Karen Meyer und ihre Kollegen diese Hintergründe recherchieren wollten, stießen sie auf unzählige Geschichten, die rund um das historische Ereignis entstanden waren. Ihre Nachforschungen gaben deshalb zwar nur unzureichende Antworten auf ihre eigentlichen Fragen. Dafür zeigen sie aber auf faszinierende Weise ein Beispiel dafür auf, wie moderne Märchen der Großstadt entstehen können.

Die Bezirksverordnetenversammlung von Berlin-Kreuzberg hatte 1989 beschlossen, eine Gedenktafel für die Opfer der Tunnelsprengung zu errichten – man hatte an eine künstlerisch gestaltete Treppenstufe auf Höhe des damaligen Wasserstands gedacht. Doch die genauen Empfehlungen zur Herstellung und Anbringung eines Gedenkzeichens wollte man von den genauen Hintergründen um die Sprengung und Flutung des Berliner Nord-Süd-Tunnels abhängig machen, die in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs stattgefunden haben soll. Karen Meyer und ihre Kollegen vom Kreuzberg-Museum für Stadtentwicklung und Sozialgeschichte wurden beauftragt, die offenen Fragen zu klären.

Wilde Thesen und „grausige Gerüchte“

Nordsüd-S-Bahn Schadensstelle Landwehrkanal: Im Vordergrund die Einbruchstelle unter dem Tempelhofer Ufer. Dahinter sieht man den stehengebliebenen Deckenteil mit dem Fundament des Portals der kleinen Hochbahnbrücken. Der Punkt A bezeichnet das stählerne Portal im Tunnel, das der Explosion widerstand und dadurch den Einsturz der Hochbahnbrücken verhinderte; Copyright: © Historische Sammlung DB AG Doch dann kam alles ganz anders. Karen Meyer und ihre Kollegen stießen bei ihren Archivrecherchen auf unerwartete Schwierigkeiten. Die Informationen, die sie in Gesprächen mit Zeitzeugen und historisch Interessierten und bei der Lektüre von Quellen und Publikationen bekamen, waren unklar und widersprüchlich. Die Datierung des Sprengungszeitpunktes variiert in den unterschiedlichen Zeitungs- und Zeitschriftenberichten zwischen dem 3. oder 4. Mai und dem 26. Mai 1945. Einige Quellen berichten, Adolf Hitler höchstpersönlich habe den Befehl zur Flutung gegeben, andere versichern dagegen, einen solchen Befehl habe es nicht gegeben. Ein Autor behauptet, bei der Flutung sei kein Mensch ertrunken, in der Berlin-Chronik des Landesarchivs ist von etwa 1.000 und in den Akten des Bestattungsamtes Kreuzberg von 50 bis 15.000 Opfern die Rede. Einige Quellen enthalten in sich Widersprüche oder offensichtliche Fehlinformationen. Neben sachlichen Berichten existieren auch „abenteuerlich“ erscheinende Darstellungen, in denen ein Autor beispielsweise „die Mordwelle durch den Tunnel rasen“ lässt und „seine Horrorszenen“ mit „zappelnden Menschenleibern“ und „zerschundenen, blutigen Körpern“ ausschmückt, „die der Strom mit sich fortreißt“. Meyer und ihre Kollegen prüfen über fünfzig Quellen und Berichte auf ihre Stichhaltigkeit und Schlüssigkeit hin, um den wahren historischen Kern aus den zahlreichen kursierenden Geschichten herauszuschälen.

Ein Nebenprodukt der Recherchearbeit sind die Erkenntnisse darüber, wie aus einem historischen Ereignis eine neue Geschichte – eine Art modernes Märchen der Großstadt – entstehen kann. Manche Zeitungen haben laut Meyer „der Verbreitung grausiger Gerüchte“ Vorschub geleistet, indem sie Erlebnisberichte mit zweifelhaften Informationen druckten, die wiederum von offiziellen Stellen bestätigt wurden. Später sei das Thema auch in der Belletristik und der populärwissenschaftlichen Literatur behandelt worden. Alle schriftlichen Quellen und Publikationen zur Sprengung und Flutung des Tunnels stützen sich – so Meyer – mehr oder weniger direkt auf Berichte von Augenzeugen, die wiederum ihre Erlebnisse „erst im Nachhinein in ein Gerüst von Ereignissen und Abläufen hineingeordnet und Verknüpfungen geschaffen“ haben, „um die Erinnerungen erklärbar zu machen.“

Ganz wie die Grimmschen Märchen?

Nord-Süd-Verbindung Berlin, Tunnelsicherheitsbeleuchtung errichtet durch DB Bahnbau GmbH; Copyright: © Deutsche Bahn AG, Foto: Christian BedeschinskiDie eine erzählt also von ihren Erlebnissen, der nächste schreibt, was er gehört hat, ein anderer greift das Gelesene auf, um wieder etwas Neues daraus zu spinnen. Tatsächlich sollen auf eine ähnliche Weise auch die alten Volksmärchen entstanden sein, die die Brüder Grimm um 1800 gesammelt und aufgeschrieben haben. „Wir wissen aus der Gedächtnisforschung, dass Menschen sinnsuchende Wesen sind, die ihr eigenes Leben narrativ konstruieren. Wenn wir etwas über Geschehnisse hören oder lesen, überlagert und verdrängt das manchmal teilweise unsere persönlichen Erlebnisse. Ein Ereignis weiterzuerzählen, ist immer ein Akt der Selbstvergewisserung“, bestätigt Germanist und Märchenforscher Stefan Neuhaus. „Alle Überlieferungsgeschichten basieren auf dem Prinzip der stillen Post: Die Bearbeiter bringen ihren eigenen Erfahrungshintergrund mit in die Geschichten ein.“ Kein Wunder also, dass der Begriff „Märchen“ wie auch in der Formulierung „Erzähl mir keine Märchen“ schon seit Jahrhunderten mit Lügen in Verbindung gebracht wird. In einem wichtigen Aspekt allerdings, so Neuhaus, unterscheiden sich die Geschichten um die Tunnelflutung in Berlin auch von den traditionellen Volksmärchen: „Keiner glaubt wirklich daran, dass Rapunzel so lange Haare hatte. Vielmehr bekommen die Grimmschen Märchen eine parabelhafte Funktion, weil es sich offensichtlich um erfundene Geschichten handelt.“

Weniger offensichtlich ist die Grenze zwischen realem historischen Ereignis und erfundenen Geschichten, wenn es um die Berliner Tunnelflutung geht. Auch Karen Meyer und ihre Kollegen konnten nach ihren umfangreichen Recherchen nur eines mit Gewissheit sagen: Es hat überhaupt eine Sprengung der Tunneldecke unter dem Landwehrkanal gegeben und die S- und U-Bahn-Schächte wurden geflutet. Sie gehen zwar mit ziemlicher Sicherheit davon aus, „dass diese Sprengung professionell durchgeführt wurde und es sich nicht um einen Unfall oder einen Bombentreffer gehandelt hat“, dass sich die Zahl der Opfer „mit ein- bis zweihundert realistisch umgrenzen“ lässt und „dass die Flutung nicht vor dem Morgen des 2. Mai stattgefunden haben kann.“ Unklar bleibt dagegen, „warum sich niemand an eine Detonation oder Druckwelle erinnern kann“, „ob und von wem es einen Befehl zur Sprengung gegeben hat“ und „welches Interesse dahinter gestanden haben könnte.“ Weil den Forschern schon ziemlich früh klar war, „dass sich hundertprozentige, eindeutige und unumstößliche Aussagen über das Geschehen kaum noch treffen lassen würden“, hat die Kreuzberger Bezirksverordnete damals auch schon früh ihre Pläne geändert und den Gedanken an die geplante Gedenktafel fallengelassen. Statt die offenen Fragen endgültig klären zu können, haben Karen Meyer und ihre Kollegen den Verlauf ihrer Recherche dokumentiert. So entstand eine spannende Broschüre – für Eisenbahnkenner wie Märchenliebhaber.

Janna Degener
hat Linguistik, Ethnologie und Neuere deutsche Literatur studiert und arbeitet als freie Journalistin in Köln.

Copyright: Goethe-Institut e. V., Internet-Redaktion
März 2012

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