Wilhelm und das World Wide Web

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Der „falsche Wilhelm“: Ex-Bundesminister von und zu Guttenberg; Im März 2011 trat er nach einer Plagiatsaffäre um seine Dissertation von allen politischen Ämtern zurück. Foto: INSM, CC BY-ND 2.0

Falsche Vornamen und Haie in der U-Bahn: Wie sich im Internet Unwahrheiten verbreiten und warum Wikipedia weder der Weisheit nächster Klick noch ihr letzter Schluss sein kann.

Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg – so heißt der Mann in aller Ausführlichkeit, den am 10. Februar 2009 nahezu alle deutschen Medien als zentrales Thema ins Blatt und ihre Nachrichtensendungen gehoben haben. Guttenberg war am Vortag als neuer Wirtschaftsminister ins Kabinett von Bundeskanzlerin Angela Merkel berufen worden und nicht wenige Journalisten griffen die ungewöhnlich vielen Vornamen des CSU-Politikers in ihren Beiträgen und Porträts als kuriose Randnotiz auf. Der Haken an der Sache: Zu den zehn Vornamen gesellte sich vielerorts in der Berichterstattung schnell noch ein elfter: Wilhelm. Doch Wilhelm war frei erfunden. Ein Streich, für den eine kleine Änderung eines Beitrags im bekanntesten Online-Lexikon schon ausreicht.

Der zusätzliche Vorname Guttenbergs ist ein markantes Beispiel für eine neuartige Form von Teufelskreis im Web 2.0, in dem der Wikipedia eine Hauptrolle zukommt. Er entsteht, wenn die Presse aus dem Wissensportal abschreibt, ohne die übernommenen Angaben zu überprüfen – und in der Mitmach-Enzyklopädie gleichzeitig aus Nachrichtenportalen zitiert wird, um dort vermeintliche Fakten in Einträgen zu belegen. Mit dem Effekt, dass manche Informationen nachher überall falsch sind. So wie einst in der Schule, wenn die ganze Reihe in der Mathearbeit beim vermeintlichen Klassenprimus abgeschrieben hat. Doch auch der kann sich leider mal verrechnen.

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Stand 14. Dezember 2012: Der Wilhelm fehlt.

Die Online-Enzyklopädie war nach Google-Angaben im Jahr 2011 die am sechsthäufigsten besuchte Website der Welt – und unter den Besuchern sind auch zahlreiche Journalisten, die sich mit wenigen Klicks Informationen holen, für die sie vor 20 Jahren noch Lexika wälzen, Anrufe tätigen oder mühsam in Archiven recherchieren mussten.

Die Wikipedia mögen viele deshalb für ein ehrenwertes und hilfreiches Projekt halten, auch weil es vornehmlich ehrenamtlich organisiert ist. Ein jeder kann für die Wikipedia schreiben, neue Beiträge erstellen oder jene anderer korrigieren. Soweit, so gut. Soweit, so schlecht. Denn genauso kann dort ein jeder auch Fehler einbauen – unbewusst wie bewusst. Und das nahezu anonym. Woher will ich wissen, ob hinter dem Beitragsersteller ein Fachmann, ein Fan oder ein Laie steckt?

In der Regel dauert es allerdings nur wenige Minuten, bis Fehler in der Wikipedia gefunden und behoben werden: wachsame Basisdemokratie in einer Online-Enzyklopädie. Auch beim Beispiel Wilhelm war das so. Doch nach ein paar Augenblicken tauchte der falsche Vorname schon wieder in dem Lexikon auf. Denn die Fakten müssen zur Verifizierung mit einem Einzelnachweis belegt werden – und der war schnell gefunden, schließlich hatten zahlreiche seriöse Medien den elften Vornamen Guttenbergs mittlerweile aufgegriffen. Aus einem Zitat aus der Wikipedia wurde so wiederum ein Beleg für angebliche Richtigkeit in einem Artikel der Enzyklopädie.

Verstärkt wird dieser Teufelskreis seitdem Medien auch soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter und Co. vermehrt als Quelle für ihre Recherchen nutzen. Gerade in der Boulevard-Berichterstattung führt das mitunter zu kuriosen Todesmeldungen: Die Schauspieler Morgan Freeman, Tom Cruise, Russel Crowe, Bill Cosby, Jackie Chan, Charlie Sheen, George Clooney, Johnny Depp, ja beinahe die gesamte Hollywood-Prominenz, erlag schon einmal, und das im wahrsten Sinne, wilden Gerüchten im Internet. Ähnlich erging es anderen bekannten Persönlichkeiten: Lady Gaga muss, urteilt man nach den Legenden im World Wide Web, ein katzenartiges Wesen sein, ist sie doch allein auf Twitter bereits mehrfach für tot gezwitschert worden.

Foto: Andy Templeton, CC BY 2.0

Auch er starb schon den virtuellen Tod: Johnny Depp. Foto: Andy Templeton, CC BY 2.0

Doch nicht nur in Schriftform bahnen sich falsche Informationen schnell einen Weg um den gesamten Globus, sondern auch als Bilder. Während und nach dem Wirbelsturm „Sandy“, der im Herbst 2012 in den USA wütete, kursierten zahlreiche Aufnahmen der durch den Orkan zerstörten Gebiete im Internet. Auf manchen waren Haie zu sehen, die vor den Rolltreppen überfluteter Gebäude in New York kreisen, auf anderen Fotos ein Taucher, der durch die bis zur Decke unter Wasser stehende U-Bahn-Station Times Square schwimmt. Und dann ist da noch die Aufnahme, auf welcher der Freiheitsstatue in Marilyn-Monroe-Manier durch eine starke Windböe das Kleid hochfliegt. Doch nicht in allen Fällen war so eindeutig, dass es sich um eine Montage handelt.

Nicht umsonst heißt es, dass die Vernetzung des World Wide Web flugs zur Verstrickung führen kann. Nicht allein „normale“ User, auch Journalisten verzetteln sich schnell im Überschuss an Informationen. Kritisches Hinterfragen, eine Portion Skepsis bei jedem Klick könnte ein wirksames Rezept gegen den Online-Schwindel sein. Denn wie sagte der deutsche Schriftsteller Richard Probst: Das Internet bietet unvorstellbar viel Mist, aber der Rest ist gar nicht übel.

Matthias Mischo

Copyright: Goethe-Institut Prag
Dezember 2012

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