Ostdeutsche Indianerstämme
Ein Pokerspieler aus Berlin erzählte, dass er bei einem internationalen Poker-Turnier einen kanadischen Indianer kennenlernte. Als der Indianer erfuhr, dass der Mann aus Deutschland kam, war er ganz aufgeregt und setzte sich zu ihm. Der Indianer fragte, ob es denn stimme, dass in Teilen Ostdeutschlands Indianer lebten. Er habe gehört, dass es dort ursprüngliche Stämme gebe, die unterdrückt werden. Der Berliner war verblüfft und versuchte dem Indianer die Sache zu erklären: Nein, in Ostdeutschland lebten keine Indianer, aber die Abenteuer von Winnetou und Old Shatterhand seien allgemein sehr bekannt. Ob er vielleicht die Figuren aus den Romanen von Karl May meine? Der Kanadier bestand darauf, er wisse genau, dass es in Ostdeutschland indianische Ureinwohner gibt. Von Indianer-Romanen und weiteren ernüchternden Ausführungen des Berliners wollte er nichts wissen. Etwas verwirrt, und vor allem verärgert, setzte er sich wieder weg.
Diese Urbane Legende ist wirklich köstlich, denn sie zeigt, dass eine alte deutsche Projektionsfläche wie „das urige Leben der Indianer“ in der Lage ist, zurück zu projizieren, wenn man nur genug Zeit vergehen lässt. Nachdem der sächsische Schriftsteller Karl May in den 1890er Jahren seine Winnetou-Trilogie veröffentlichte, nahm das Indianerfieber in Deutschland seinen Lauf. Blutsbrüderschaft, Indianerponys, Squaws, Totempfähle, Leben im Tipi – die Deutschen kannten sich plötzlich bestens aus mit allen Aspekten des Indianerlebens.
Nach dem zweiten Weltkrieg kamen die ersten Winnetou-Verfilmungen in die Kinos, und die Indianerbegeisterung war neu entfacht. Es entstanden Indianer-Filme in Ost- wie in Westdeutschland, die beidseitig sehr populär wurden. Ein regelrechter Indianer-Kult aber breitete sich in der DDR aus, dort gab es zeitweilig 50 „Kulturgruppen zur Pflege des Indianischen Brauchtums“. Das waren Hobby-Indianer, die neben ihrem bürgerlichen Leben eine Art Parallelleben als DDR-Indianer führten, das aber kaum noch von Karl Mays Wild-West-Phantasien geprägt war, sondern eher von den Erkenntnissen der Ethnologie über das Leben der nordamerikanischen Indianer. Das Leipziger Völkerkundemuseum war der zentrale Anlaufpunkt dieser DDR-Indianer-Gruppen, die von ihren Mitglieder erwarteten, dass sie sich ernsthaft mit dem Indianerleben auseinandersetzten. Die offizielle DDR unterstützte das positive Image der Indianer, denn die Kinder des Arbeiterstaates sollten sich nicht – wie im Westen – mit den Cowboys identifizieren. Indianer galten als kapitalismuskritische Genossen, die von den bösen Westblock-Amerikanern unterdrückt wurden.
Der DDR-Film Die Söhne der großen Bärin von 1966 spiegelt die ideologische Vereinnahmung durch die Parteiführung. Die Hauptrolle als Indianerhäuptling Tokei-ihto spielte der aus Jugoslawien stammende Gojko Mitic, der auch der „Winnetou des Ostens“ genannt wurde, obwohl er im Film niemals Winnetou verkörperte (er tat es erst viel später in den jährlich stattfindenden Karl-May-Festspielen, das sind Freilufttheater-Aufführungen, in Bad Segeberg). Mit dem Vergleich ist eher gemeint, dass er einen ähnlichen Starruhm genoss wie der aus Frankreich stammende Winnetou-Darsteller Pierre Brice.
Das echte Leben der Indianer lernten die DDR-Indianer erst nach dem Fall der Mauer kennen, als sie endlich Reisefreiheit bekamen. Viele mussten ernüchtert feststellen, dass die Ureinwohner Nordamerikas in festen Häusern leben und von der angeblichen Romantik der Prärie keine Spur mehr ist. Dieser Schockmoment von fehlender Romantik beziehungsweise knallharter Realität wird in der vorliegenden Legende dadurch bestätigt, dass der kanadische Indianer, der seinerseits auf der Suche nach einem ursprünglichen Indianerstamm in Ostdeutschland ist, bei einem internationalen Poker-Turnier auftaucht. Auch er hat keine Lust, sich das romantische Bild vom ostdeutschen Ureinwohner, der nach Indianerart lebt, beschädigen zu lassen.
Copyright: Goethe-Institut Prag
Dezember 2012