Jeder von uns ist ein Imam

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Imam Ludovic-Mohamed Zahed: „Mein Fehler war, dass ich Menschen geglaubt hatte, die ihre Interpretation des Islams mit Faschismus rechtfertigen.“

Der homosexuelle Imam Ludovic-Mohamed Zahed hat in Paris eine Queer-Moschee gegründet. Mit welcher Lesart des Korans ist das vereinbar? Und warten auch auf schwule Muslime im Himmel die legendären Jungfrauen?

Gibt es Fragen, die Journalisten Ihnen immer wieder stellen, und die Ihnen schon auf die Nerven gehen?

Ja, da gibt es viele. Zum Beispiel: Wie hat sich der Prophet Homosexuellen gegenüber verhalten? Wo hast du gelebt? Wo bist du aufgewachsen? Und ob ich wirklich eine Queer-Moschee in Paris gegründet habe? Und was meine Familie dazu sagt? Wie sie zu meiner Orientierung steht? Um auf diese komplizierten Fragen eine gute Antwort zu geben, muss ich weit ausholen und ganz woanders anfangen.

Holen Sie ruhig weit aus.

Ich war 17, als ich Algerien nach dem Bürgerkrieg verlassen habe, ich wusste nichts über den spirituellen Islam, ich kannte nur den faschistischen Islam. Ich wusste auch, was die Nazis gemacht hatten, und was die Kommunisten. Mir war auch bekannt, was sich in vielen zivilisierten Gesellschaften in Zeiten von Krisen, Kolonisation oder Armut entwickelt hatte. Die Araber hatten etwas ganz Ähnliches mit dem Islam gemacht, denn wir waren traumatisiert und kolonisiert.

In Frankreich habe ich meine Sexualität entdeckt und ich habe mich bemüht, zwei Jahre lang beide Leben zu führen – sowohl sexuell, als auch spirituell. Aber das war eine große Herausforderung, die mich schließlich in eine tiefe Krise stürzte. Ich habe Depressionen bekommen und sogar an Selbstmord gedacht. Deshalb habe ich dann entschieden, mich von der Spiritualität zu lösen. Ich habe mich gezwungen, mit dem Meditieren aufzuhören, habe aufgehört zu fasten und den Koran zu lesen. Dadurch habe ich mich aber auch von einem großen Teil meines Selbst gelöst, denn diese Tätigkeiten waren ja schon seit der Kindheit Teil meines Lebens. Ich habe nur in der Sexualität gelebt – ich habe ein wildes und freies Leben entdeckt und erlebt. Aber ich habe festgestellt, dass ich immer noch nicht glücklich war, dass ich mich leer fühlte.

Eines Nachts habe ich meine Schwester angerufen. Ich lag in meiner Wohnung auf der Couch und habe darüber nachgedacht, dass ich einen guten Job habe, eine schöne Wohnung, viel arbeite, und eigentlich glücklich sein sollte. Ich war zwar nicht unglücklich, aber ich habe gespürt, dass mir doch etwas fehlt, wenn das alles sein sollte in meinem Leben. Und meine Schwester fragte mich, was mir fehlt, und ich habe ihr geantwortet, dass mir die Spiritualität fehlt. Aus meiner Glaubensgemeinschaft war ich ausgeschlossen, beziehungsweise habe ich sie freiwillig verlassen, weil ich die Tatsache akzeptiert habe, dass ich da nicht hingehöre. Ich habe akzeptiert, dass es nicht geht, gleichzeitig homosexuell zu sein und ein religiöses Leben zu führen.

Später habe ich wieder angefangen zu meditieren. Ich habe mir Bücher besorgt über den Buddhismus, der mich zu dieser Zeit sehr interessiert hat. Ich habe auch wieder angefangen, spirituell zu leben. Vor meiner Konvertierung wollte ich eine Wallfahrt nach Tibet zu unternehmen, um die Wurzeln der Tradition zu sehen, für die ich mich interessierte. Ich wollte nicht wieder in die Irre geführt werden, wie es mit dem Islam der Fall war. Doch in Tibet hörte ich dann Meinungen wie: „Oh, Frauen? Ja, Frauen werden als Frauen wiedergeboren, weil sie schlechtes Karma haben. Oh, und Homosexualität? Das ist etwas Unnatürliches.“ Es klang genauso wie der Islam, den ich aus meiner Kindheit kannte: Vorurteile, Patriarchalismus, Ignoranz. Ich setzte mich näher damit auseinander und stellte dann fest, dass das nicht der Buddhismus, sondern lediglich seine Interpretation ist.

So wurde mir dann bewusst, dass ich wieder Muslim werden konnte, beziehungsweise es bleiben konnte. Mein Fehler war, dass ich Menschen geglaubt hatte, die ihre Interpretation des Islams mit Faschismus rechtfertigen.

Ich habe dann wieder gebetet und den Koran gelesen. Es war nicht leicht, und bis heute kommen mir Interpretationen des Korans in den Sinn, die ich als Jugendlicher gelernt habe.

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Imam Ludovic-Mohamed Zahed: „Himmel und Hölle sind in uns selbst, hier und jetzt. Das ist nichts, was nach dem Tod kommt.“

Was waren die größten Unterschiede, die Sie gefunden haben?

Wenn man zum Beispiel über die Hölle liest. „Die, welche nicht an Gott glauben …, kommen in die Hölle.“ Wenn man das so liest, ist das reiner Faschismus. Das ist eine politische Linie, die vom Patriarchat kommt – also von den Mächtigsten.

Falls man das auf diese Art liest, ist es für jemanden wie mich nicht möglich, den Islam zu praktizieren. Aber ich bemühe mich, zu verstehen, was diese Passage für die Menschen damals bedeutet hatte, als der Koran geschrieben worden war. Jeden Vers aus dem Koran in einen Kontext zu setzen – das ist die Basis. In allen islamischen Ländern sagen sie dasselbe. Aber sie handeln anders. Sie setzen den Koran in einen Kontext, der ihren Zwecken entspricht, damit sie das, was sie tun, rechtfertigen können.

So habe ich angefangen, mir die Frage zu stellen, was Gott eigentlich bedeutet. Vielleicht ist Gott kein Gott, sondern etwas Vollkommenes. Und Allah (Alliah) kommt erkenntnistheoretisch tatsächlich von „was das Beste in jedem von uns ist“. Es ist also etwas, das aus uns selbst kommt, etwas Spirituelles, eine Art Energie. Dann macht es Sinn. Wenn wir nicht an Gott glauben, nicht an etwas Großartiges, das in uns ist und auch in allen anderen Menschen, dann werden wir an Depressionen leiden, wir werden böse und alles um uns herum töten wollen – und in die Hölle kommen. Wir werden genauso wie die sogenannten Islamisten. Himmel und Hölle sind in uns selbst, hier und jetzt. Das ist nichts, was nach dem Tod kommt. Nach dem Tod erreichen wir eine höhere Stufe des Bewusstseins.

Also wir werden nicht auf Gott treffen, wenn wir sterben?

Ich glaube, dass viel mehr passiert. Wir werden ein Teil Gottes. Der Tod ist eine Form, mit der wir das höhere Bewusstsein begreifen. Das ist meine Interpretation.

Und was hat es mit den legendären Jungfrauen auf sich, die im Himmel auf die Muslime warten?

Das ist auch nicht wahr. Ich habe darüber auch schon mit meinem Verlobten gesprochen, der Physiker ist. Das arabische Wort Al Hurar al `ain bedeutet nicht „Jungfrau“, sondern „das Wissen, das du zwischen dem unendlich Großen und dem unendlich Kleinen erlangst“. Theoretisch können wir das gesamte Weltall erforschen, sofern wir die Zeit und die technologischen Möglichkeiten dazu haben, wir können überall auf der Welt sein und eine Menge neuer Sachen lernen. Aber gleichzeitig sind wir sehr klein, wir sind Staub, und zu Staub kehren wir zurück. Wenn wir unser Bewusstsein erweitern, dann erkennen wir Gott in uns selbst. Wir sind ein Teil Gottes und Gott ist ein Teil von uns. Einige Muslime haben das schon behauptet, aber sie wurden dafür gekreuzigt, also werde ich das lieber nicht wiederholen.

Tja, und um zurück zu meiner Lebensgeschichte zu kommen: Dieses Erwachen stand am Anfang meiner inneren Ruhe, die ich Islam nenne. Der Islam bedeutet für mich, die innere Ruhe in sich selbst zu finden. Nach einigen Jahren hatte ich beschlossen, dass ich nicht zum Buddhismus übertreten werde, sondern mich als sogenannten „Budmu“ sehe, wie meine Freunde mich nennen – ein Muslim, inspiriert durch Buddhismus, Judentum und Christentum.

Ich habe auch beschlossen, mich mit anderen Imamen zu vernetzen. Im Jahr 2012 habe ich eine Queer-Moschee gegründet, und einige Leute haben sich mir angeschlossen.

Wieviele Imame gibt es auf der Welt, die sich offen zu ihrer Homosexualität bekennen?

Vor fünf Jahren waren wir noch drei. Mittlerweile sind wir schon 20 muslimische Gelehrte, die LGBT sind. Sie sehen also, wie schnell wir uns vermehren. Aber 20 Gelehrte sind nichts im Vergleich zu mehr als einer Milliarde Muslime weltweit.

Auf Wikipedia steht, dass 23 Prozent der Weltbevölkerung Muslime sind, zwischen 1,6 und 1,7 Milliarden Menschen. Wenn 3 Prozent von ihnen homosexuell sind, gibt es weltweit also circa 48 Millionen homosexuelle Muslime.

Ja, das überrascht mich nicht. In meiner Glaubensgemeinschaft, wo wir alle Queer-Muslims willkommen heißen, gibt es viele solcher, die sich selbst nicht als homosexuell oder LGBT bezeichnen würden. In meiner Gemeinschaft habe ich auch einen Mann, der ist ein typisches Beispiel dafür. Als er zu uns gekommen ist, hat er gesagt: „Das hier ist mein Freund, ich habe Sex mit ihm, aber ich bin auf keinen Fall schwul. Eines Tages werde ich heiraten und Kinder haben, sonst würde mich meine Familie nicht akzeptieren.“

Wie sieht die Zukunft des Islams aus?

Entweder der Islam entwickelt sich weiter, oder er verschwindet, wie das Christentum in Europa. Wenn wir uns nicht um eine ernsthafte und spirituelle Religion bemühen, bleiben die Moscheen leer und der Glaube geht in wenigen Jahrzehnten verloren, genauso wie die Kirchengemeinden. Ich will, dass sich die Menschen emanzipieren, und die Kraft der Religion in die eigene Hand nehmen. Jeder von uns ist ein Imam.

Es ist interessant, dass gläubige und nicht gläubige Menschen einen sehr ähnlichen Zugang zum Glauben haben. Er ist ein Konzept, dass irgendwoher aus dem Unbekannten kommt. Der Glaube ist etwas, das unseren Bedürfnissen entspringt. Wir sollen nicht zwischen dem Glauben und dem alltäglichen Leben unterscheiden. Der Glaube ist ein Teil unserer Kultur.

Das Interview führte Marie Kučerová.
Übersetzung: Julia Mieseböck

Copyright: jádu | Goethe-Institut Prag
März 2017
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Ludovic-Mohamed Zahed

Ludovic-Mohamed Zahed wurde 1997 in Algier geboren. Er ist Imam, im Jahr 2012 gründete er die erste Queer-Moschee der Welt in Paris. Er studierte Anthropologie und Psychologie und gibt Seminare und Vorlesungen über einen liberalen Zugang zur Auslegung des Korans. Er gründete die Organisation CALEM Cabinet, die Vorlesungen, Workshops und Kurse anbietet, unter anderem auch für Imame, die sich für die Rechte von Minderheiten einsetzen wollen.

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