Das Ende ist nah

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Campino, Frontmann der westdeutschen Band Die Toten Hosen auf dem Olof-Palme-Friedenskonzert, 15. September 1987 / Plzeň-Lochotín, Foto: © Vladimir Lishuk | www.punk.cz

„Das Ende ist nah, für Lenin und Marx, das Ende ist nah. Disko in Moskau…“ sang Campino, Frontman der westdeutschen Band Die Toten Hosen an jenem Tag im Lochotíner Amphitheater. Man schrieb das Jahr 1987, bis zum Fall der Berliner Mauer sollten noch zwei Jahre vergehen und in Plzeň (Pilsen) fand das Olof-Palme-Friedenskonzert statt. Im Lineup waren Bands aus der DDR, der Tschechoslowakei, aber auch der BRD. Eben aus der BRD kamen auch Die Toten Hosen, deren Zusammentreffen mit dem Star der Zeit der „Normalisierung“, Michal David, zu unerwarteten Vorkommnissen führte. Was genau geschah damals?

Zum ersten Mal seit vielen Jahren konnten die tschechoslowakischen Fans eine Musik erleben, die von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs kam. Allerdings waren es nicht nur einheimische Fans, sagt der Schriftsteller Jaroslav Rudiš, dem bei einer seiner Lesungen in Deutschland sogar jemand aus der ehemaligen DDR begegnete, der versucht hatte zum Konzert nach Plzeň zu kommen. Das ist ihm nicht gelungen. An der Grenze wurde er aufgehalten. In Lochotín sollten allerdings nicht nur die „Westpunks“ auftreten, sondern auch Repräsentanten des Ostblocks wie etwa die Band Stromboli und der bereits erwähnte Michal David. Im Amphitheater trafen so, einfach ausgedrückt, zwei musikalische Lager aufeinander – auf der einen Seite überwiegend Punks, die sich vor allem auf den Punkrock aus dem Westen freuten; auf der anderen Seite warteten auch die Fans der fröhlichen Disko-Lieder in der Darbietung von Michal David auf ihr Stück vom Kuchen. David war dem Publikum in Plzeň vor allem dank seiner Mitwirkung am Film Diskopříběh (etwa: Diskogeschichte) ein Begriff. Der Film war im selben Jahr in Pilsen gedreht worden. Selbst David verkündete nach Jahren, es habe sich um einen großen dramaturgischen Irrtum gehandelt, aber damals ist da wahrscheinlich niemand drauf gekommen, denn es geschahen Dinge, die in der Dramaturgie tatsächlich nicht vorgesehen waren.

Und dann bin ich mit ein paar Leuten sogar kurz auf die Bühne geklettert und wir haben zusammen getrunken bis uns die Ordner weggebracht haben. Aber die haben noch gespielt und das war das lauteste und absolut Beste was ich je gehört hatte aber dann hat es aufgehört und der Arsch von Moderator kündigte Majkl Nonstopíč an aber die Leute wollten die Hosen ich meine die Leute mit Iros wie wir. Er hat Nonstopíč auftreten lassen aber die Leute haben ihn ausgepfiffen ich meine wir unten unter der Bühne.

So erzählt es Nancy, eine Figur aus dem Jaroslav Rudišs Roman Vom Ende des Punks in Helsinki. Rudiš lässt die junge rebellierende Nancy durch Tagebucheinträge sprechen, in denen auch die Ereignisse in Plzeň vorkommen. Nancy traf auf dem Weg zum Konzert zwei Ostdeutsche, die genau wie sie in Richtung Plzeň unterwegs waren, um die Toten Hosen live zu sehen. Da Nancy deutsch konnte, lernte sie die beiden kennen. Das wahre Kennenlernen der anderen Welt wartete aber erst im Lochotíner Amphitheater auf sie. „Das war ein wichtiges Zusammentreffen von Osten und Westen, auch für die Musiker aus dem Westen war es etwas Besonderes, die Toten Hosen haben das erste Mal hinter dem Eisernen Vorhang gespielt,“ sagt Jaroslav Rudiš. Deshalb sei er darauf gekommen, dieses Ereignis in seine Geschichte einzubinden. Bei der Rekonstruktion des Geschehens halfen ihm Erzählungen eines Freundes, der selbst beim Konzert dabei gewesen war.

Dieses Jahr traf sich Rudiš anlässlich der neu erschienenen deutschen Übersetzung seines Romans mit dem Manager und Gitarristen der Toten Hosen. Beide erinnerten sich, dass es auch für sie kein gewöhnlicher Tag war. Was passierte erzählt Nancy:

Da ging eine Schlägerei los und ich hab auch was abbekommen. Die Bullen prügelten uns weg und dann hab ich gesehen wie sie die Hosen und die andere deutsche Band in den Bus stoßen und sie auf der Straße verprügeln dann sprach sich das herum und die Leute fingen an sich vor die Busse zu legen die rausgefahren sind und ich und Sid und Rotten haben uns auch hingelegt und die Bullen haben uns geschlagen und weggezogen und sind mit dem Wolga über uns drüber gefahren und Hunde waren da auch und die Leute unter dem Bus riefen Freiheit Gestapo Frieden Die Toten Hosen.

Die westdeutschen Musiker wurden an die Grenze gebracht und buchstäblich aus dem Land geworfen. Sie irrten nachts in der Nähe von Furth im Wald umher und warteten auf eine Möglichkeit zurück nach Hause zu kommen. Ihr erster Ausflug in die Tschechoslowakei endete also für sie sehr wild und sie ahnten höchstwahrscheinlich noch nicht, wie sich die Dinge dort entwickeln würden.

Musik ist ihrem Wesen nach apolitisch, so wie die Kunst allgemein, ich bezweifle überhaupt ihren Einfluss auf die Politik. Als Franco, auch dank deutscher Hilfe, die spanische Stadt Guernica bombardierte, reagierte Pablo Picasso darauf mit einem Bild, das zwar sehr bewundert wurde und noch immer wird, aber die damalige politische Situation verschob es kein bisschen. Als die Toten Hosen 1987 in Plzeň vom Ende des Kalten Kriegs sangen, konnte das eine Menge Leute inspirieren, aber auf das Ende der Sowjetunion hatte es keinerlei Einfluss.

Von Zeit zu Zeit passiert es jedoch, dass Musik und Politik sich begegnen, sich an einem Punkt treffen und sich so gegenseitig eine neue Dimension geben. Die Musik begegnet aber nicht der Politik als solcher, sondern eher einer Art gesellschaftlichen Stimmung, die mit der Politik eng verknüpft ist.

In jener Zeit lag auf einmal etwas Neues in der Luft. Das Eis begann zu schmelzen, ungeachtet der globalen Politik – es betraf die bereits erwähnte gesellschaftliche Stimmung. Draußen waren nicht mehr die „Davidschen dreißig Grad unter Null“. In Moskau tanzte man zwar nicht Disko, wie es an jenem Tag Campino vorhergesagt hatte, der Sänger der Toten Hosen, aber ein frischer Wind wehte herüber. Es vergingen nur noch zwei Jahre, bis die Trasse „Hosen-Pilsen“ erneut geöffnet wurde, dieses Mal dann vielleicht ja für immer.

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Vítek Groesl
Übersetzung: Lena Dorn

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
November 2014


Foto: Günter Höhne © picture alliance/ZB

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