Trotz Marx

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Jenny Kassler, die nahe der Mecklenburgischen Seenplatte ihre ersten neun Lebensjahre verbrachte, ließ sich taufen, nachdem sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in die Oberpfalz kam. Foto: © privat

Religion und Glaube waren in der DDR nicht mit der marxistisch-leninistischen Staatsideologie vereinbar. Das Regime unternahm vieles, um den Einfluss der Kirche zurückzudrängen. Mit Erfolg. Dennoch blieb vor allem die Evangelische Kirche als Institution in der Gesellschaft verankert und spielte eine wichtige Rolle beim friedlichen Umsturz im Herbst 1989. Doch wie ist es heute in den neuen Bundesländern um Religion und Glauben bestellt?

Friederike aus Leipzig ist jetzt 23. Als die Mauer fiel war sie noch nicht auf der Welt. Auswirkungen der kommunistischen Herrschaft spürte sie aber trotzdem. Zum Beispiel in Glaubensfragen und dem Umgang mit der Kirche. Während in den alten Bundesländern zumindest in den ersten Schuljahren der Besuch des Religionsunterrichtes üblich ist, machte Friederike andere Erfahrungen: „Neben evangelischer Religionslehre, die ich besuchte, gab es noch Ethikunterricht, an dem zum damaligen Zeitpunkt wahrscheinlich der Großteil der Schüler teilnahm. Andere ließen sich, weil sie unentschlossen waren oder sie sich weder mit Ethik oder Religionsunterricht identifizieren konnten, vom Unterricht befreien.“

Kirche als Zentrum des Widerstands?

Religionsferne als Altlast der DDR? Als „Opium des Volks“ bezeichnete Karl Marx die Religion einst. Die Staatsideologie der DDR, die sich am Marxismus-Leninismus orientierte, lehnte Glaube und Religion ab.

Mit Sprüchen wie „Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein“ wurde von höchsten Stellen versucht, den Glauben an Gott als Schöpfer lächerlich zu machen. Doch so sehr sich das Regime auch bemühte, konnte es die Religion nicht vollständig zurückdrängen. Zwar nahm die Zahl der religiös gebundenen Menschen während der vier Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft ab, jedoch blieb die Kirche als Institution in der Gesellschaft verankert. „Die Angriffe auf die Kirche fanden vor allem zu Beginn der DDR statt. Die Regierung merkte aber schnell, dass man sich mit der Kirche arrangieren muss, denn sie ließ sich nicht so einfach aus dem öffentlichen Leben verbannen“, so Detlef Rückert. Von 1981 bis 1990 war Rückert als Jurist im Konsistorium Berlin-Brandenburg tätig. Heute ist er Oberkirchenrat und Juristischer Referent beim Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland.

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Von 1981 bis 1990 war Rückert als Jurist im Konsistorium Berlin-Brandenburg tätig. Heute ist er Oberkirchenrat und Juristischer Referent beim Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Foto: © Detlef Rückert

Wenn man an in diesen Tagen an die Kirche in der DDR denkt, dann fallen einem sofort die berühmten Friedensmärsche oder die Montagsgebete in der Leipziger Nikolaikirche ein, die im Herbst 1989 die friedliche Revolution mit auf den Weg brachten. „Ob die Kirche als Zentrum des Widerstands bezeichnet werden kann, lässt sich nicht so einfach mit ja oder nein beantworten“, meint Rückert. „Wahrscheinlich haben es die Leute damals so empfunden, aber die Kirche selbst hat sich primär nicht als Widerstand verstanden.“ Nichtsdestotrotz habe die Kirche sich derer angenommen, die benachteiligt waren: „Und das waren nun mal diejenigen, wie Ausreisewillige, Wehrdienstverweigerer, die sogenannten ‚nicht angepassten Jugendlichen‘ oder Umweltaktivisten, die das Regime nicht gerne sah und die sich schließlich zum Widerstand formierten.“

Im Vordergrund der Kirchenarbeit in der DDR stand nicht die Opposition gegen die politischen Verhältnisse, sondern der Glaube. „Aber natürlich hat der Glaube auch Auswirkungen auf das Verhalten“, so Rückert. „Auf die Kunst der Andeutung und Verschleierung kam es an. Natürlich konnte man Kritik hören, aber oft verklausuliert. Gerade zum Ende hin fielen aber auch deutliche Worte in Richtung des Regimes“, erinnert er sich. „Die Leute arbeiteten gegen die Ziele der Regierung in Friedenskreisen, in Umweltgruppen, in Frauengesprächskreisen oder auch bei besonderen thematischen Gottesdiensten, der Friedenswerkstatt oder den Bluesmessen in Berlin, die sich den Problemen der Jugendlichen damals widmeten, denn offiziell hatten die Jugendlichen keine Probleme zu haben.“

Kirche? Einfach nur ein Gebäude!

So wurde die Kirche in der DDR zwar zum Sammelbecken von Regimegegnern. Praktizierter Glaube blieb jedoch vor allem den jüngeren Generationen häufig fremd. Jenny Kassler, die nahe der Mecklenburgischen Seenplatte ihre ersten neun Lebensjahre verbrachte, bevor sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester in die Oberpfalz kam, erinnert sich: „Es gab keine religiöse Erziehung in der DDR damals. Ich kann mich nur an die Pioniergruppen erinnern, deren Gruppenstunden für mich beinahe spirituellen Charakter hatten. Mein Wissen über Gott hat mir erst meine bayerische Oma vermittelt.“ Zwar sei Jenny als Kind einmal mit ihrer Mutter in einer Kirche gewesen. „Aber ich hatte keine nähere Beziehung zu diesem Ort. Es war einfach ein Gebäude – so wie es ein Krankenhaus, eine Schule oder ein Feuerwehrhaus gibt.“

Als sie im Sommer 1991 nach Bayern zog, waren Jenny die Kreuze an der Wand, das Weihwasser an den Türstöcken ihres neuen Zuhauses und die Tischgebete fremd. „Sogar in der Schule wurde ein Morgengebet gesprochen. Meine Schwester und ich wussten gar nicht, was wir damit anfangen sollen. Oma erzählte uns, dass wir in jeder Situation mit Gott sprechen können, dass er uns Halt gibt und wir auf ihn vertrauen können. Das faszinierte uns. Deshalb wuchs schnell der Entschluss, uns taufen zu lassen.“

In Ostdeutschland sind bekennende Gläubige auch mehr als zwei Jahrzehnte nach der Wende in einer deutlichen Minderheit. Laut der jüngsten Statistik der Evangelischen Kirche in Deutschland aus dem Jahr 2011 gehören in den neuen Bundesländern einschließlich Berlin über drei Viertel der Bevölkerung keiner der beiden großen christlichen Konfessionen an, auf dem Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik nur wenig mehr als ein Drittel.

Friederike, deren Vater in Köthen in Sachsen-Anhalt Pfarrer ist und durch den sie viele Erfahrungen im Gemeindeleben sammeln konnte, glaubt dennoch, dass sich die Verhältnisse in den neuen und alten Bundesländern mittlerweile angleichen: „Ich habe den Eindruck, dass das Interesse vieler Jugendlichen an Religion und Kirche in den letzten Jahren gestiegen ist. Ich habe in der Schule selbst erlebt, dass die Klassengrößen im Religionsunterricht stark gestiegen sind. Bis zum Ende meiner Gymnasialzeit besuchte fast die Hälfte meines Jahrgangs den Religionsunterricht.“ Auch ihr Vater, der an der Schule Religionsunterricht gibt, berichtet von einer steigenden Tendenz. „Zumindest das Interesse für den Glauben ist wieder vorhanden.“


Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
November 2014


Foto: Günter Höhne © picture alliance/ZB

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