Zurück in die Vergangenheit

Foto: © privatFoto: © privat
Askold Kurow, Foto: © privat

Für Ausländer, die nach Russland reisen, gehört dessen sowjetische Vergangenheit zu den anziehendsten Bezugspunkten: Lenin im Mausoleum, die Monumentalbauten des Stalinschen Neoklassizismus, die sowjetischen Trinkhallen – das alles ist Teil einer Zeitmaschine, die man in Russland noch vielfach besteigen kann. Dem Regisseur Askold Kurow ist es gelungen, tief in das Innere dieses russischen Disneylands vorzudringen: zweieinhalb Jahre lang arbeitete er an einem Film über den Alltag des Lenin-Museums in Gorki. Das Ergebnis waren die Anerkennung auf internationalen Festivals und… Knatsch mit alten Freunden.

Die ersten Szenen des Films rufen schon gleich seltsame Gefühle hervor: Vor einem Lenin-Denkmal legen Kinder den Pioniereid ab. Nur, dass das alles digital gedreht ist und die Kinder irgendwie aussehen, als wären sie der heutigen Zeit entsprungen. Es scheint sich also um eine absolute Vermischung von Epochen zu handeln. Wer weiß schließlich schon genau, in welcher Zeit er lebt?

Als ich das erste Mal in diesem Museum war, faszinierte mich die Tatsache, dass man Zeit einfach so konservieren kann. Wie erstaunlich, dass dieses Museum bis heute so betrieben wird, und dass dort Leute angestellt sind, die noch an vergangene Ideale glauben. Erstaunlich ist außerdem, dass die Regierung dieses Haus aus irgendwelchen Gründen erhält – es also weder schließt noch weiterentwickelt. Als ob man das alles auf jeden Fall bewahren müsse – wer weiß, vielleicht braucht man es ja schließlich noch mal. Die Flamme der Vergangenheit flackert dort bis heute. Einfach so, für alle Fälle. Und interessant ist auch, was um das Museum herum so alles vor sich geht.

Zum Beispiel hat die orthodoxe Kirche begonnen, auf dem Gelände genau gegenüber des Museums ein Gotteshaus zu errichten und Prozessionen zu organisieren. Man hätte diese Kirche zwar auch irgendwo anders bauen können – aber sie wollten ganz genau diesen Platz haben, so, als ob er irgendeine besondere Energie ausstrahlen würde. Im Prinzip ergibt sich da ein ähnlicher Effekt, wie wenn man verschiedene Schichten übereinander legt und der Eindruck entsteht, als wären wir in einer Art Übergangsphase steckengeblieben, zum Stillstand gekommen – oder hätten wahrscheinlich schon damit begonnen, uns wieder rückwärts zu drehen. In letzter Zeit passieren so viele Dinge, dass dieses Gefühl, das, was passiert, sei irgendwie nicht real, immer stärker wird. Es kommt einem immer so vor, als ob das alles gar nicht passiert wäre (ich meine die Ukraine, die Krim, die Schließung von Informationsportalen, die Verfolgung von Journalisten und die Propaganda im Fernsehen, die den schlechtesten sowjetischen Traditionen zur Ehre gereicht).

Und wie kamen Sie nach Gorki?

Erst war ich eher zufällig da: Ich machte mit Freunden, die Architekten sind, einen geführten Ausflug, bei dem es um das Werk von Leonid Pawlow ging. Dem Architekten also, der diesen ganzen Komplex einmal gebaut hat. Ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass dieses Museum noch als Museum betrieben wird, und dass dort diese einzigartigen Leute beschäftigt sind, die all das bewahren. Nach einer gewissen Zeit, als ich meine Filmausbildung schon abgeschlossen hatte, bin ich dorthin zurückgekehrt und hatte Lust, einen Film zu machen. Erst waren wir zu unterschiedlichen Drehorten gefahren, doch nach einem Jahr suchte ich mir in Gorki Arbeit und war ab dann also Mitarbeiter des Museums. Meine Aufgabe war die Aufzeichnung von „Videochroniken“ für das Museum. Insgesamt haben wir an Leninland zweieinhalb Jahre gedreht.

Ihr Film ist irgendwie in einem anderen Stil gedreht, als man ihn aus der Schule von Marina Rasbeschkina gewohnt ist…

Das stimmt. Während des Studiums an der Filmhochschule arbeiten die Studierenden selbständig – man ist sowohl Regisseur als auch Produzent und Tonmeister. Das erlaubt es einem, Filme zu drehen, in denen man sehr nah an die Protagonisten heran kommt. Es gibt auch technisch gesehen einige Verbote, die während der Studienzeit zu beachten sind. Aber das bedeutet nicht, dass man nach Beendigung der Schule nicht ganz anders filmen kann – so, wie man es eben für den eigenen Film für angemessen hält. Bei Leninland hatten wir sowohl einen Produzenten als auch einen Tonfachmann: denn mir war einfach klar geworden, dass ich, um die Atmosphäre in diesem Museum wiederzugeben, mit einer einfachen Handkamera nicht auskommen würde. Die Architektur, die Inneneinrichtung und die audiovisuellen Installationen sind einfach besonders. Wenn man sich in diesem Museum aufhält, spürt man unfreiwillig so eine Art religiöse Erschütterung. Im Film gibt es eine Szene, in der eine ältere Frau sich dreifach vor einem Lenin-Denkmal bekreuzigt und tonlos etwas flüstert, so wie bei einem Gebet.

Welche Filmszenen liegen Ihnen besonders am Herzen?

Mir gefällt die Szene mit dem Bauchtanz im Museum, und die, in der dieser Schüler die Abkürzung RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) nicht aussprechen kann. Und die schwierigste Szene ist wahrscheinlich der Streit meiner beiden Hauptdarstellerinnen über die Prioritäten des Geistigen oder Materiellen. Auf diese Episode habe ich lange gewartet. Beide Protagonistinnen hatten sich normalerweise selbst zensiert und während der Aufnahmen sozusagen Regie geführt – sie wussten ganz genau, wie sie im Film dastehen wollten. Und deswegen hat es einige Zeit gebraucht, um mit ihnen einen Kontakt herzustellen. Um den Moment abzuwarten, in dem sie mich und die Kamera endgültig vergessen haben und anfangen, über Dinge zu sprechen, die ihnen wirklich wichtig sind. Der Höhepunkt des Ganzen war dann genau diese Szene.

Welche Rezensionen zum Film waren Ihnen am wichtigsten? Oder: welche Rezensionen haben Sie besonders in Erinnerung behalten?

Ich habe Rezensionen im Internet gelesen. Manche fanden, dass es wieder einmal ein Versuch sei, Lenin schlecht zu machen und diejenigen Ideale an den Pranger zu stellen, die für das Leben der älteren Generation immer noch Bestand haben. Andere sagen im Gegenteil, dass es ein wichtiger Film ist, der einem helfen kann, diesen Zustand zu begreifen, in dem sich unsere Gesellschaft gerade befindet.

Die Hauptdarstellerinnen des Films haben gerade keinen Kontakt untereinander, aber bei beiden ist der Film nicht gut angekommen. Die erste Reaktion war jedenfalls stark ablehnend. Für Jewgenija Olegowna (die Frau, die das Museum am Ende des Filmes verlässt) war es eine „Schmähung des Heiligen Geistes“. Obwohl sie diese Reaktion einige Zeit später dann auch wieder relativiert hat. Meine andere Protagonisten, Natalja Wiktorowna, meinte, dass zwar alles, was gezeigt wird, im Einzelnen der Wahrheit entspräche – aber dass das Bild, das am Ende daraus entsteht, ihr nicht gefällt und abstoßend auf sie wirkt.


Haben Sie noch Kontakt zu den Menschen, die Sie im Film portraitiert haben?

Nein, jetzt gerade haben wir keinen Kontakt. Während der Zeit, in der ich gefilmt habe, waren wir gut befreundet, und ich fände es sehr schade, wenn der Film das für immer verändert hätte. Vor kurzem habe ich auf der Homepage der Zeitung Sowjetisches Russland einen Text von einer der beiden Hauptdarstellerinnen gelesen, in dem sie sich auf Leninland wie auf ein Dokument bezog, dass die schreckliche Politik des neuen Museumsdirektors bezeugt.

Das Verhalten der Frauen, die im Film dargestellt werden, ruft beim Zuschauer oft ein Lächeln hervor. Doch selbst stehen sie den sowjetischen Idealen durchaus mit großer Ernsthaftigkeit gegenüber. Hatten Sie während der Filmarbeiten das ethische Problem, Ihre Protagonistinnen in einem unvorteilhaften Licht darzustellen?

Die Frage stand im Raum, und ich habe mir Mühe gegeben, die ganze Zeit über Neutralität zu bewahren. Ich habe außerdem nie vorgegeben, dass ich die Ideale und Werte meiner Hauptdarstellerinnen teile. Ich habe nie damit gespielt. Von Beginn an und bis zum Ende war es mir wichtig, ihnen zuzuhören und zu erfahren, wie sie leben und was dieses Museum und diese Epoche für sie bedeuten. Ich wollte ihnen die Möglichkeit geben, sich auszudrücken. Ob mir bewusst war, dass das ironisch rüberkommen könnte? Natürlich – doch ich hatte keinerlei Bedürfnis, mich über sie lustig zu machen. Ich habe eine sehr innige Beziehung zu ihnen, und sie liegen mir genau so am Herzen, wie sie eben sind.

Der Film endet mit dieser grotesken Szene, in der ein chinesischer Chor auf der Bühne des Museums auftritt…

Der chinesische Chor kommt regelmäßig zu Auftritten nach Gorki – das ist eine alte Tradition. Nur haben leider in den letzten Jahren die dortigen Anwohner keine große Lust mehr, hinzugehen und ihn sich anzuhören. Und deswegen werden Soldaten aus der nächstliegenden Kaserne zu den Konzerten angekarrt. Das ist auch so eine sowjetische Tradition, dass Theater- oder Konzertsäle mit Wehrdienstleistenden gefüllt werden.

Was hat sich für Sie nach der Perestroika hauptsächlich verändert?

Die Perestroika begann, als ich zwölf Jahre alt war. Das ist ja in der Regel so das Alter, in dem man große Veränderungen durchmacht. Für mich hat sich die Welt damals so oder so verändert – mal ganz abgesehen von der Perestroika. Meine Kindheit als Pionier stand unter dem Eindruck staatlicher Kontrolle, Pflichterfüllung und leiser Angst. Ich weiß noch, dass ich als Kind einmal in das Zimmer platzte, als meine Eltern sich gegenseitig Breschnjew-Witze erzählten. Und wie meine Mama mir danach noch lange predigte, dass ich niemandem etwas davon erzählen dürfe – weil man sie sonst ins Gefängnis werfen würde. Außerdem war das Leben während der Perestroika sehr interessant: Es tauchten neue Bücher, Filme und Musik auf. Und, was am wichtigsten ist: Die Angst nahm langsam ab.

Sie haben einen Film über homosexuelle Jugendliche gedreht und drehen aktuell an einer Dokumentation über den ukrainischen Regisseur Oleg Senzow, dem unter Umständen eine Haftstrafe von 20 Jahren bevorsteht. Wie arbeitet ein Dokumentarfilmer unter den aktuellen Bedingungen?

Ich denke, dass wir kaum wieder in das Jahr ’37 zurückfallen werden – weil die Regierung heute selbst gar nicht mehr daran interessiert ist, die Grenzen dicht zu machen oder die Leute zu Tausenden ins Gefängnis zu sperren. Die Grenzen werden ja im Gegenteil offen gehalten, damit all diejenigen, die unzufrieden sind, ausreisen können. Ich selbst habe entschieden, dass ich nirgendwohin wegfahren will, solange ich nicht in meiner Freiheit und Sicherheit bedroht bin.

Für mich hat sich bisher noch nichts so großartig verändert, weil ich für meine Filme nie eine finanzielle Unterstützung von Seiten der Regierung bekommen habe und bis heute auch nicht bekomme. „Leninland“ wurde im Prinzip ohne Budget gedreht, auf meine eigenen Kosten. Kinder 404 habe ich mit Geld gedreht, das bei einem internationalen Crowdfunding gesammelt wurde. Da uns bewusst war, dass Kinder 404 niemals im Fernsehen oder im Kino gezeigt werden würde, haben wir ihn gleich ins Internet gestellt. Solange es diese Möglichkeit noch gibt. Ich wünsche mir sehr, dass sich viele diesen Film ansehen.

Lernen Sie auch etwas aus Ihren Filmen?

Ich sage immer, dass das Dokumentarfilmen für mich eine private Psychotherapie ist. Wenn irgendeine Frage im Raum steht, die dir zusetzt, ohne dass du etwas dagegen tun kannst, dann machst du eben einen Film, um damit klarzukommen. Meinen Diplom-Film habe ich in Usbekistan gedreht, in der Stadt, in der ich geboren wurde. Es wurde dann ein Film über russische Frauen, die dort geblieben sind und bis heute dort leben. Ich habe damals die Entdeckung gemacht, dass deine Anwesenheit mit der Kamera die Realität verändern kann. Vor der Kamera entwickeln sich Ereignisse irgendwie anders, in einer ganz anderen Ordnung. Einerseits bemerkt man dich zwar nicht so wirklich, und doch zieht die Kamera einfach solche Ereignisse an, die danach einen Film ausmachen. Und dann gab es dort noch diese seltsame Begebenheit, als ich auf der Suche nach russischen Frauen war. Ich ging nach dem Gottesdienst in eine orthodoxe Kirche und versuchte, mit den Gemeindemitgliedern ins Gespräch zu kommen. Aber alle rannten weg, als ob ich der Teufel sei. In Usbekistan ist die Situation schwierig: Die Leute haben Angst, in die Kamera zu sprechen, weil das nicht ganz ungefährlich ist. Plötzlich aber fiel mir eine Usbekin auf, die in dieser Kirche einfach nur sauber machte und die Kerzenhalter putzte. Mir wurde klar, dass dahinter eine Geschichte stecken muss, weil es für eine Muslimin gefährlich und schwierig ist, den orthodoxen Glauben anzunehmen. Die Gesellschaft versteht das einfach nicht und verurteilt es auch. Na ja, und so war sie eben die Einzige, die bereit war, mit mir zu sprechen. Im Endeffekt hat sie mir gestanden, dass ich in all den Jahren, die sie schon in dieser Kirche arbeitet, der Erste war, der sich für ihr Leben interessierte. Bis dahin hatte sie noch nicht einmal der geistige Vater zu ihrer Vergangenheit befragt. Und mir wurde klar, dass es den Leuten wichtig ist, dass jemand von ihrer Geschichte erfährt und sie in irgendeiner Form bewahrt.

Danach kam der Film Der 25. September. Eine persönliche Geschichte, in der mein Adoptivsohn, den ich kenne, seitdem er sechs Jahre alt ist, im Mittelpunkt steht. Seitdem er vier war, hatte er im Kinderheim gelebt, und danach eben in seiner Adoptivfamilie. Eines Tages, als er schon 20 war, beschloss er, seine Brüder, Schwestern und den Vater ausfindig zu machen, der die Mutter vor seinen Augen umgebracht hatte. Also fährt er in sein Heimatdorf, sucht sie auf, erfährt krasse Details aus seiner Familiengeschichte und bringt Licht in die Beziehung zu seinem Vater. Die Filmarbeiten haben nur 12 Stunden gedauert, und für mich ist dieser Film eine ideale Dokumentation von unglaublicher Konzentration, in der alles „einfach so passiert“ und du der Person, die du portraitierst, einfach nur zu folgen brauchst.

Das Interview führte Viktor Timofeew
Übersetzung aus dem Russischen: Anna Brixa

Copyright: To4ka-Treff
November 2014


Foto: Günter Höhne © picture alliance/ZB

    Themen auf jádu

    Gemischtes Doppel | V4

    Vier Kolumnisten aus der Slowakei, Tschechien, Polen und Ungarn schreiben über die Bedeutung Europas, Rechtspopulismus, nationale Souveränität, gesellschaftlichen Wandel, die Arroganz des westlichen Blicks – und brechen damit staatliche und gedankliche Grenzen auf. Mehr...

    Heute ist Morgen
    Oder ist es umgekehrt?! Und war nicht auch gestern schon mal Morgen? In was für einer Welt wollen wir gerne leben? Und wie lange wollen wir warten, bis sie Wirklichkeit wird? Mehr...

    Im Auge des Betrachters
    … liegt die Schönheit. Da liegt aber auch die Hässlichkeit – und alles dazwischen. Als Betrachter sind wir jedoch nur selten allein. Und als Betrachtete sowieso nicht. Mehr...

    Dazugehören
    Seit gesellschaftliche Akteure jeder Couleur ihre Forderung nach Integration einem Mantra gleich herunterbeten, gerät viel zu oft in Vergessenheit, dass Integration ein individueller Prozess ist, der auch von uns selbst etwas verlangt. Mehr...

    Themenarchiv
    Ältere jádu-Schwerpunkte findest du im Themenarchiv. Mehr...