Der Mauerfall begann in Leipzig

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Sven nahm im Herbst 1989 an den Leipziger Montagsdemonstrationen teil. Foto: © Daniel Kehr

Sven ist 44 Jahre alt. Geboren wurde er in Leipzig, wo er bis heute lebt. Die sächsische Universitäts- und Messestadt war einer der ersten Orte in der ehemaligen DDR, wo es im Herbst 1989 zu Massendemonstrationen gegen das SED-Regime kam. Diese Ereignisse mündeten in den Fall der Berliner Mauer und die deutsche Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990. Im Interview berichtet Sven, wie er die Leipziger Ereignisse als damals 19-Jähriger miterlebte.

Was hast du 1989 gemacht?

Ich war 19 und habe gerade meine Berufsausbildung beendet, ich habe Buchbinder gelernt. Ich nahm an den regelmäßigen Montagsdemonstrationen in Leipzig teil. Die gab es seit Juni 1989 an der Nikolaikirche.

Wie verliefen die Leipziger Demonstrationen?

Es gab die sogenannten Montagsgebete, die viele Menschen besuchten. Zu Beginn waren das Hunderte, und jede Woche wurden es immer mehr. Wenn wir die Kirche verließen, war die ganze Umgebung von der Polizei abgesperrt. Das war für die Teilnehmer ein großes Problem, und einige wurden sogar verhaftet. Am 9. Oktober kam es zu einer so gewaltigen Demonstration, dass die Staatsmacht schließlich kapitulierte. Da waren etwa 70.000 Demonstranten.

Du warst damals 19 Jahre alt und hast dich aktiv gegen das DDR-Regime gestellt. Was hat dich am meisten gestört?

Das Land war vollkommen am Ende. Es gab fast gar nicht zu kaufen. Die Leute wurden immer unzufriedener mit den Lebensbedingungen. Dann sahen wir im Westfernsehen die Bilder von den Prager Botschaftsflüchtlingen, und auch das, was in Polen und Ungarn vor sich ging. Da wussten wir, dass irgendetwas passieren muss, weil Ostdeutschland bis dahin geschwiegen hatte.

Was wusstest du bis dahin über das Leben in der Bundesrepublik?

Zumindest haben wir immer Westfernsehen geschaut. Das ging irgendwie, dadurch hatte man Informationen, die es in den DDR-Medien nicht gab. Meine beiden älteren Brüder sind 1987 nach Westdeutschland emigriert, von ihnen habe ich vieles erfahren.

Hast du deine Brüder in diesen zwei Jahren vor dem Mauerfall gesehen?

Nein, sie konnten nicht in die DDR und ich wiederum nicht in die Bundesrepublik. Es war sehr schwer, den Kontakt aufrechtzuerhalten. Manchmal haben wir telefoniert, aber damals war es nicht ganz einfach, an ein Telefon zu kommen, also war der Kontakt minimal.

Hast du selbst in der Zeit darüber nachgedacht wegzugehen?

Für mich kam das nicht in Frage. Ich wollte immer in Leipzig bleiben, und das gilt bis heute.

Die Wende in Deutschlang begann in Leipzig, wieso gerade dort?

Gute Frage. Vielleicht deshalb, weil die Leute hier so ein bisschen außergewöhnlich sind. Jedenfalls waren sie die ersten, die wirklich anfingen, etwas zu tun, die anderen schlossen sich erst später an. In Berlin ging das zum Beispiel auch recht früh los, aber die anderen Städte folgten erst später.

Und deine Freunde? Gab es da welche, die mit den damaligen Verhältnissen zufrieden waren?

Die Mehrheit war unzufrieden. Ich kannte wohl niemanden, der felsenfest vom Sozialismus in der DDR überzeugt war. Aber es gab viele, die zu Beginn Angst davor hatten, an den Protesten teilzunehmen. Die hatten vor allem vor der Armee und der Polizei Angst. Zu Anfang hieß es vor allem „Wir sind das Volk und bleiben hier“. Erst ab November 1989 änderten sich die Parolen zu „Wir sind ein Volk – vereintes Deutschland“. Zu Beginn hat mir das nicht besonders gefallen.

Was hat sich für dich nach 1989 verändert?

Ziemlich schnell habe ich meine Arbeit verloren. Eine Menge großer Betriebe und Fabriken machte dicht. Für ein Vierteljahr bin ich nach Bayern gefahren, um dort eine Arbeit zu finden. Aber ich fühlte mich da gar nicht wohl, also bin ich wieder recht schnell nach Leipzig zurückgekehrt. Dann machte ich eine Ausbildung zum Reiseverkehrskaufmann. Nach etwa zwei Jahren stellte ich fest, dass das auch nicht das Gelbe vom Ei ist. Oft arbeitete ich sieben Tage die Woche und verdiente sehr wenig Geld. Also habe ich das gelassen und arbeitete dann in verschiedenen Jobs, Kino, Gastronomie. Immer habe ich aber nebenbei Musik gemacht, wodurch ich mir ein wenig hinzuverdienen konnte. Die letzten sieben Jahre hab ich in einem Jugendclub gearbeitet.

Die Berliner Mauer ist vor 25 Jahren gefallen. Wie siehst du die jetzige Demokratie? Was bedeutet sie für dich?

Meinungsfreiheit. Der Mensch hat viele Freiheiten, die er nutzen kann, aber alles hängt eng mit Arbeit und Geld zusammen. Völlig zufrieden bin ich mit dem System, das wir haben, nicht.

Wenn du Deutschland 1989 und 2014 vergleichst, was hat sich für dich geändert?

Die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt ist gewaltig geworden. Die Leute wollen heutzutage hauptsächlich Geld verdienen und Karriere machen. Da gibt es großen Druck. Auf der anderen Seite gibt es aber die bereits erwähnte Meinungsfreiheit und die Möglichkeit zu tun, was man will. Mit der gegenwärtigen Politik bin ich aber nicht zufrieden.

Das Interview führte Martin Melichar
Übersetzung: Ivan Dramlitsch

Copyright: jádu in Zusammenarbeit mit Radio Wave
November 2014


Foto: Günter Höhne © picture alliance/ZB

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